Zum Verhältnis Lektüre – Nachlaß – Werk bei Nietzsche

Mazzino Montinari

1. Nietzsches Lektüre anderer Autoren, – durch (meistens) versteckte Zitate in seinen Schriften, durch Exzerpte im Nachlaß, durch Randglossen, Unterstreichungen und andere Lesespuren in Bänden seiner Bibliothek belegt, – ist Bestandteil des Werks. Sie gehört somit in den Text, weist aber gleichzeitig über den Text hinaus.

2. Wie das zu verstehen ist, sei an vier charakteristischen Beispielen aus dem Nachlaß von Frühjahr/Herbst 1884 gezeigt, die hier stellvertretend für zahllose andere angeführt werden.

3. 1. Aus dem heute völlig in Vergessenheit geratenen Roman von Astolphe de Custine (1790–1857) Le monde comme il est (Paris 1835, Bd. 2, S. 281f.) exzerpierte Nietzsche u. a.:

4. 25[91] Frühjahr 1884

5. l’effet ordinaire du desespoir est de rendre l’energie a ceux, qui sont temoins de cette maladie morale (eKGWB/NF-1884,25[91]).

6. Dieses psychologische Aperçu beeindruckte Nietzsche so sehr, daß er es einige Monate später in seine dichterischen Versuche und Zarathustraaufzeichnungen einarbeitete:

7. 28[9] Herbst 1884

8. du Verzweifelnder! Weißt du auch, —

9. wie viel Muth machst du denen,

10. die dir zuschaun (eKGWB/NF-1884,28[9])

11. 28[22] Herbst 1884

12. — ihr Verzweifelnden! wie viel Muth

13. macht ihr denen, die euch zuschauen! (eKGWB/NF-1884,28[22])

14. 29[1] Herbst 1884 — Anfang 1885

15. — ihr Verzweifelnden! Wie viel Muth macht ihr denen, die euch zuschauen! (eKGWB/NF-1884,29[1])

16. 31[48] Winter 1884/85

17. — ihr Verzweifelnden, wie viel Muth macht ihr allen denen, die euch zureden! (eKGWB/NF-1884,31[48])

18. Endgültige Verwendung gleichsam als verstecktes Zitat fand das Exzerpt aus Custines Roman im vierten Zarathustra selbst:

19. Die Begrüßung

20. [...] Aber ihr errathet nicht, was mein Herz muthwillig macht: — ihr selber thut es und euer Anblick, vergebt es mir! Jeder nämlich wird muthig, der einem Verzweifelnden zuschaut. Einem Verzweifelnden zuzusprechen — dazu dünkt sich Jeder stark genug. (eKGWB/Za-IV-Begruessung)

21. 2. Im selben Roman las Nietzsche folgende Charakterisierung der Frauen („Le monde comme il est” Bd. 2, S. 275f.):

22. Quelle que soit la finesse de leurs aperçus, l’élégance de leurs manières, les femmes sont toujours moins civilisées que les hommes. Elles ont beau avoir l’esprit plus dé1ié, le cœur plus tendre, malgré leur douceur, il leur reste toujours quelque chose de sauvage dans le fond de l’âme. C’est que leurs principes sont moins arrêtés que les nôtres, et que le pacte social repose sur des doctrines et non sur des affections: elles vivent dans 1’état, comme les chats dans la maison, qui profitent des avantages de la domesticité, mais qui sont toujours prêts à prendre la porte ou la fenêtre pour rentrer dans leur élément.

23. Nietzsche exzerpiert nun:

24. 25[92] Frühjahr 1884

25. die Frauen immer weniger civilisirt als die Männer: im Grunde der Seele wild; sie leben im Staate wie die Katzen im Hause, immer bereit zur Thür oder zum Fenster hinauszuspringen und in ihr Element zurückzukehren (eKGWB/NF-1884,25[92])

26. Auch dieses Exzpert wird in den Gedichtfragmenten benutzt und findet schließlich seine Verwendung im vierten Zarathustra:

27. 28[20] Herbst 1884

28. wer gleich Katzen und Weibern

29. in der Wildniß heimisch ist,

30. und durch Fenster springt (eKGWB/NF-1884,28[20])

31. 28[21] Herbst 1884

32. [...] Larven suchst du

33. und Regen-Bogen-Häute

34. Wild-Katzen-Muthwille, der durch Fenster springt,

35. hinaus in allen Zufalls Wildniß! (eKGWB/NF-1884,28[21])

36. 29[1] Herbst 1884 – Anfang 1885

37. — gleich Katzen und Weibern in der Wildniß heim sein und durch Fenster springen (eKGWB/NF-1884,29[1])

38. 31[31] Winter 1884—85

39. [...] voll Katzen-Muthwillens, der durch jedes Fenster springt in jeden Zufall, in jeder Wildniß heimischer als vor Tempeln (eKGWB/NF-1884,31[31])

40. Also sprach Zarathustra. Vierter Teil. „Das Lied der Schwermuth“:

41. Voll Katzen-Muthwillens,

42. Durch jedes Fenster springend

43. Husch! in jeden Zufall,

44. jedem Urwalde zuschnüffelnd (eKGWB/Za-IV-Schwermuth-3)

45. Ein Echo, wenn auch nur analogisch, findet sich auch in Jenseits von Gut und Böse (1886), Aphorismus 131:

46. [...] das Weib ist wesentlich unfriedlich, gleich der Katze, so gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat. (eKGWB/JGB-131)

47. 3. Eine wichtige Lektüre Nietzsches im Winter 1883/84 war Francis Galton Inquiries into Human Faculty and its Development (London 1883). Dieses Werk lernte Nietzsche durch Josef Paneh kennen. Aus seinen Exzerpten seien hier die beiden angeführt, welche wiederum bis in die Abfassung des vierten Teils von Also sprach Zarathustra weiter wirken:

48. The deficiency of conscience in criminals, as shown by the absence of genuine remorse for their guilt, astonished all who first become familiar with the details of prison life. Scenes of heartrending despair are hardly ever witnessed among prisoners; their sleep is broken by no uneasy dreams - on the contrary, it is easy and sound; they have also excellent appetites (S. 61).

49. Nietzsche exzerpiert

50. 25[18] Frühjahr 1884

51. Die Verbrecher im Gefängniß schlafen gut; keine Gewissensbisse. (eKGWB/NF-1884,25[18])

52. Dann aber lesen wir in den nachgelassenen Fragmenten:

53. 28[9] Herbst 1884

54. ach wie du klagst!

55. Ach wen du weidest!

56. Gefangne noch weidest du.

57. Wie sicher ist den Unstäten

58. doch ein Gefängniß!

59. wie ruhig schlafen verbrecherische

60. Seelen, eingefangen — (eKGWB/NF-1884,28[9])

61. 28[22] Herbst 1884 „Die Weltmüden”

62. wie sicher ist dem Unstäten auch

63. ein Gefängniß!

64. Wie ruhig schlafen die Seelen

65. eingefangner Verbrecher!

66. Am Gewissen leiden nur

67. Gewissenhafte! (eKGWB/NF-1884,28[22])

68. 29[1] Herbst 1884 — Anfang 1885

69. — wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie seelenruhig schlafen doch die Verbrecher! (eKGWB/NF-1884,29[1])

70. 31[44] Winter 1884—85

71. Heimatloser — wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie ruhig schlafen eingefangene Verbrecher! (eKGWB/NF-1884,31[44])

72. 32[8] Winter 1884—85 „Das Heimweh ohne Heim. Der Wanderer.”

73. wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie ruhig schlafen eingefangne Verbrecher! (eKGWB/NF-1884,32[8])

74. Also sprach Zarathustra. Vierter Teil. „Der Schatten”:

75. Solchen Unstäten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängniss selig. Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie geniessen ihre neue Sicherheit. (eKGWB/Za-IV/Schatten)

76. 4. Hier nun das letzte Beispiel aus den Inquiries into Human Faculty and its Development:

77. The mad outbreaks of women in convict prisons is a most curious phenomenon. Some of them are apt from time to time to have a gardually increasing desire that at last becomes irresistible, to „break out”, as it is technically called; that is, to smash and tear everything they can within reach, and to shriek, curse, an howl (S. 65).

78. Nietzsche exzerpiert

79. 25[18] Frühjahr 1884

80. [...] Bei Frauen nervöse Anfälle to „break out” (schreien schimpfen fluchen, Alles zerbrechen) (eKGWB/NF-1884,25[18])

81. In den nachgelassenen Fragmenten heißt es:

82. 28[23] Herbst 1884

83. Diese Zeit ist wie ein krankes Weib

84. laßt sie nur schreien, rasen, schimpfen und Tisch und Teller
zerbrechen (eKGWB/NF-1884,28[23])

85. 29[1] Herbst 1884 — Anfang 1885

86. — diese Zeit ist wie ein krankes Weib: laßt sie nur schrein, schimpfen, rasen und Tisch und Teller zerbrechen! (eKGWB/NF-1884,29[1])

87. 31[48] Winter 1884—85

88. — diese Zeit: ist sie nicht wie ein krankes Weib, das rasen schreien schimpfen und Tisch und Teller zerbrechen muß, daß es endlich wieder Ruhe habe? (eKGWB/NF-1884,31[48])

89. 32[8] Winter 1884—85 „Das Heimweh ohne Heim. Der Wanderer.”

90. — was macht Europa? - Oh das ist ein krankes wunderliches Weibchen: das muß man rasen schreien und Tisch und Teller zerbrechen lassen, sonst hat man nimmer vor ihm Ruhe: ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden will. (eKGWB/NF-1884,32[8])

91. Als Reminiszenz, zugleich aber als Erledigung des Gleichnisses findet sich in Also sprach Zarathustra. Vierter Teil. „Unter Töchtern der Wüste”:

92. […]

93. dafür komme ich

94. Aus Europa,

95. Das zweifelssüchtiger ist alle

96. ältlichen Eheweibchen. (eKGWB/Za-IV/Toechter-2)

97. Die Erschließung dieser bisher unbekannten, entlegenen Quellen bewegt sich in zweifacher Richtung: einmal vom Extratext, von Nietzsches Lektüre (im Nachlaß belegt) bis zum Text Also sprach Zarathustra, dann aber vom Text (Zarathustra) zum Extratext (Custine und Galton), d. h. zu Zeugen des historischen Zusammenhangs, in dem Nietzsches Denken und Werk gelebt haben. Wir werden daran erinnert, daß sich in Nietzsche eine vielfache philosophische und literarische Tradition exemplarisch und eigentümlich verdichtet.

98. Der erschlossene Zusammenhang verleiht dem Text durch eine Art Kontrasteffekt historische Tiefe; er bedeutet jedoch keine Reduktion des Textes auf anderes, etwa den „Zeitgeist”, noch deckt er dessen Entstehung auf.

99. Dasselbe, was für die sogenannten Vorstufen eines Textes gilt, gilt für die in ihm enthaltene Lektüre. In der Tat kann die Genese des Textes als Reihenfolge seiner Fassungen nie kausal erklärt, sondern immer nur beschrieben werden. In dem, was wir gewohnt sind, Textgenese zu nennen, nehmen wir eine Anzahl von chronologisch aufeinander folgenden Fassungen wahr, ohne daß uns die Übergänge von einer Fassung zur anderen bekannt wären.

100. Die Reihenfolge der Fassungen bildet eine chronologische Juxtaposition von Texten, von denen wir annehmen können, daß, vielleicht wie, aber nicht warum sie auseinander hervorgehen: eine Veränderung, Bereicherung, Vertiefung, Steigerung des Textes ist dabei erfahrbar. Dieses Erfahren ist nun durch unsere Vorkenntnis der Endfassung bedingt.

101. In dieser Perspektive, in der der Text die Vorstufen gleichsam erklärt, ist auch die Lektüre aufzunehmen, die – wie wir gesehen haben – zu einer Formulierung im Text führt. Wie der Text nicht von den Vorstufen aus zu erklären ist, sondern der Text sie verständlich macht, so erklärt nicht die Lektüre den Text, sondern der Text die Lektüre. Deshalb sind die einstmals, gerade bei Nietzsche und anderen großen Autoren immer wieder erhobenen Vorwürfe wegen Plagiats, oder auch nur das Suchen nach sogenannten Beeinflussungen müßig, lächerlich, nichtig.