Nietzsche – Hillebrand

Mazzino Montinari

1. Die Dokumentation über Nietzsches geistige Begegnung mit Hillebrand ist lückenhaft. Einige Briefe von Beider Seite sind, wie schon Crusius 1909 bemerkte, verloren gegangen. Trotzdem kann man aufgrund indirekter Zeugnisse (z.B. aus Bayreuth) und verstreuter Fragmente und Varianten in Nietzsches Nachlaß einige Kulminationspunkte in seiner Auseinandersetzung mit dem bedeutenden Manne herausheben und miteinander verbinden, bis die wohl bekannte Seite über den „letzten humanen Deutschen“ (eKGWB/EH-UB-2) im Ecce homo uns verständlich wird.

2. Was ich mir heute vornehme, ist nicht eine vollständige Darstellung dieses Verhältnisses, die ja auch Hillebrands Auseinandersetzung mit Nietzsche einschließen sollte, sondern vielmehr so gut wie unbekannte Äußerungen Nietzsches aus seinem Werk und Nachlaß zu deuten und der Forschung zugänglich zu machen, indem ich sie gleichsam aus ihrem Versteck hervorziehe.

3. In Menschliches, Allzumenschliches lesen wir im Aphorismus 269:

4. Um eine Viertelstunde früher . — Man findet gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst: er ist seiner Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und Ueberlegenen. (eKGWB/MA-269)

5. Zu diesem Aphorismus, der erst 1878 erschien, gibt es eine lückenlose Entstehungsgeschichte, die uns durch 3 Zeugnisse bekannt geworden ist und mit dem Jahre 1875 beginnt:

6. 1) Nietzsches Brief an Marie Baumgartner, 13. Mai 1875 (aus Basel)

7. Ich möchte Ihnen ein neues Buch von Hillebrand in Florenz geben… Es heisst „Zeiten Völker und Menschen“ und bei den „Menschen“ komme ich auch ein wenig in Betracht. Er redet so, wie die öffentliche Meinung in 10 Jahren sein wird d. h. er ist ein klein wenig der jetzigen Meinung voran. Doch geht es nicht weit. (eKGWB/BVN-1875,446)

8. 2) Nachgelassene Fragmente (Sommer) 1876

9. Menschen die wie Hillebrandt nur der öffentlichen Meinung um einige Jahre voraus sind: die ebenfalls nur eine öffentliche Meinung haben. (eKGWB/NF-1876,16[29])

10. 3) Vorstufe zu Menschliches, Allzumenschliches 269 (eKGWB/MA-269), entstanden Sommer 1876

11. Man kann mit seinen Ansichten über seiner Zeit stehen, aber doch nur so weit, daß man die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts anticipirt, also nur die öffentliche Meinung eher hat als sie öffentlich ist (z.B. Hillebrand). (KGW IV, S. 209)

12. Die Bemerkung im Brief verliert allmählich ihre Beiläufigkeit und Zufälligkeit, wird, im Nachlaß, zu einem Urteil über Hillebrand und, im veröffentlichten Werk, zu einer Sentenz allgemeinen Charakters, eben die Beschreibung eines Charakters, des Charakters des Eintagsschreibers, Zeitungsschreibers, welcher in sich so viel Geist und Klugheit hat, um der öffentlichen Meinung der nächsten zehn Jahre vorauszueilen.

13. Wenn man Nietzsches Definition der öffentlichen Meinung kennt, die er in Anlehnung an einen berühmten Titel Mandevilles zunächst in der dritten Unzeitgemäßen (1874) dann aber auch in Menschliches, Allzumenschliches (Aph. 482) drucken ließ – sie lautet: „Oeffentliche Meinungen — private Faulheiten“ (eKGWB/MA-482) –, so wird man Nietzsches Bilanz seiner seit 1873 bestehenden Beziehungen zu Hillebrand als weitgehend negativ bezeichnen müssen.

14. Das hat bei Nietzsche ideologische Gründe, zur Zeit der Veröffentlichung sogar überwundene Hintergründe. Diese finden wir in zwei anderen Fragmenten aus dem Nachlaß, die er ein Jahr davor, mitten in der Arbeit an seiner vierten Unzeitgemäßen, niederschrieb.

15. Man höre folgende Sätze aus dem Sommer 1875:

16. Er [Wagner] sucht den Beitrag, den die Deutschen der kommenden Kultur geben werden. Das ist freilich nicht der „Historismus“ der Gelehrten Deutschlands wie Hillebrand meint. Denn das ist wirklich Reaktion und Lügengeist und Optimismus. Sondern in dem großen unbefriedigten Herzen, das weit größer ist als eine Nation — das nennt er deutsch: man nennt es vulgärer Weise das Kosmopolitische des Deutschen, das ist aber nur die Karikatur. Die Deutschen sind nicht national, aber auch nicht kosmopolitisch, die größten Deutschen (eKGWB/NF-1875,11[4])

17. Aus den Gedanken dieser Vorarbeit zur Unzeitgemäßen über Wagner wird dann im endgültigen Text: „Seine [Wagners] Gedanken sind wie die jedes guten und grossen Deutschen überdeutsch und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen.“ (eKGWB/WB-10) Die Erwähnung Hillebrands im Fragment aber erklärt sich durch das, was dieser selber als Deutschlands Beitrag zur europäischen Civilisation bezeichnet hatte, und zwar in seiner Rezension von Nietzsches dritter Unzeitgemäßen: Schopenhauer als Erzieher.

18. Nicht sehen wollen, schrieb Hillebrand gegen Nietzsche und gegen Schopenhauer, daß Hegel eigentlich den Grundgedanken der deutschen Bildung in ein System gebracht — folglich auch zuweilen ad absurdum getrieben — heißt entweder die geistige Geschichte Deutschlands, von Herder bis auf Feuerbach, ignoriren, oder Deutschlands Beitrag zur europäischen Civilisation als werthlos darstellen. (K. Hillebrand, Schopenhauer und das deutsche Publikum, in: Allgemeine Zeitung, Augsburg, Beilage der Nr. 352 vom 18.12.1874<K. Hillebrand, Schopenhauer und das deutsche Publikum, in: Allgemeine Zeitung, Augsburg, Beilage der Nr. 352 vom 18.12.1874>)

19. Der Grundgedanke der deutschen Bildung war – nach Hillebrand – der „Gedanke der historischen Entwicklung“: für Nietzsche der optimistische, reaktionäre, lügnerische Historismus.

20. Schopenhauer war in den etwas eklektischen Augen Hillebrands, der, wie viele andere deutsche Emigranten der 48er Revolution, den Frankfurter Philosophen im entscheidenden Jahr 1854 gelesen hatte, eine Art Ergänzung des historischen liberal-konservativen Denkens in der Schule bei Hegel, auch eine Art Korrektiv, indem er die Grenzen zwischen Staat und Kultur (etwa im Burckhardtschen Sinne) scharf gezogen hatte. Aber so gewiß nicht die linke radikale Variante der Hegelschen Schule (trotz respektvoller Nennung Feuerbachs) von ihm übernommen wurde, so gewiß auch nicht die damalige Wagnersche reformerische Variante des Schopenhauerianismus, die in Nietzsche ihren beredtesten Vertreter hatte. Nietzsche trat damals in der Tat für die „Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt“ ein, deshalb mußte ihm die Historie, wie er – den Satz Feuerbachs, die Philosophie sei eine verkappte Theologie, variierend – sagte, als eine verkappte Theodizee erscheinen, d. h. eine a posteriori Rechtfertigung des Erfolgs und des Bestehenden, welche ihre Dienste „als Opiat gegen alles Umwälzende und Erneuernde“ leistete.

21. Es gab auch noch einen anderen Grund für Nietzsches damalige polemische Einstellung zu Hillebrand, dieser kommt im zweiten Fragment aus dem Sommer 1875 zum Ausdruck:

22. Das Wesen der Musik gibt ihm [Wagner] das Licht; sie steht im Gegensatz zu unsrer begrifflichen und litterarischen Welt (die Welt des Scheins unfruchtbar, Hillebrand mit seinen Hoffnungen lächerlich). Wagner bildet die innere Phantasie aus. (eKGWB/NF-1875,12[28])

23. Der Hintergrund dieser Äußerung verdient nähere, bessere Beleuchtung. Gegen Ende 1873 erschien anonym in Berlin eine kleine Broschüre unter dem Titel Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers. Der Autor war Karl Hillebrand, und von ihm erhielt Nietzsche sehr wahrscheinlich ein Exemplar (briefliche Zeugnisse dafür sind nicht erhalten). Nietzsches Reaktion war enthusiastisch: „welches Labsal! Lies und staune, es ist einer der Unsrigen, einer von der ‚Gesellschaft der Hoffenden’“, schreibt er an Rohde am 31. Dezember 1873 (eKGWB/BVN-1873,338)[1]. Die „Gesellschaft der Hoffenden“, in die Nietzsche Hillebrand gleichsam aufnehmen wollte, war eine ideale Gesellschaft, zu der all diejenigen zählten, die an die Möglichkeit einer Kultur- und Kunstreform im Zeichen Wagners glaubten, die also für die „Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt“ (eKGWB/BVN-1873,335) kämpfen wollten.

24. Diese Aufnahme wurde jedoch von höchster Stelle verhindert: Cosima Wagner fand Hillebrands Hoffnungen in die bildende Kunst „kleinlich“, die Geburt der Tragödie vielmehr und Oper und Drama hätten die richtigen Hoffnungen angeregt und Hillebrand selbst habe nicht die geistige Kraft, sich den „Hoffenden“ anzuschliessen. Die Rezension der zweiten Unzeitgemäßen sollte kurz darauf Nietzsches Begeisterung für Hillebrand weiterhin dämpfen, da dieser die Symptome der historischen Krankheit in Deutschland nicht zu erkennen vermochte, vollends die nächste Rezension über Schopenhauer als Erzieher, in der Hillebrand – wie wir schon gesehen haben – den Grundgedanken der deutschen Bildung im Gedanken der historischen Entwicklung zu erkennen meinte. So konnte Cosima Wagner im Dezember 1874 ihrem Freund Nietzsche triumphierend schreiben: „Aber Hillebrand! Hatte ich nicht recht mit dem Büchlein? Ein ganz verhegelter Kopf ...“ (Cosima an Wagner, 31. Dezember 1874; Brief Nr. 619, KGB II/4, S. 643) Dies das letzte Wort an Nietzsche über Hillebrand von Bayreuth aus, wo sowohl Richard als auch Cosima Wagner seit dem April jenes Jahres nicht müde geworden waren, Nietzsche ob seiner Überschätzung der Kenntnisse und der Lebensart jenes – wie sie meinten – oberflächlichen Talentes in Florenz freundliche Vorwürfe zu machen.

25. Bei der Ausarbeitung der vierten Unzeitgemäßen, welche schließlich zum Wagnerischen Panegyrikus und Palinodie in einem werden sollte, ließ Nietzsche die Sache, um die es kunsttheoretisch und -reformatorisch ging, nicht unerwähnt: „die Welt des Scheins [also die Welt der bildenden Kunst, M. M.] unfruchtbar, Hillebrand mit seinen Hoffnungen lächerlich“ (eKGWB/NF-1875,12[28]) hatte er im schon zitierten Fragment geschrieben; im endgültigen Text wurde Hillebrands Name selbstverständlich weggelassen, dafür aber sah Nietzsche die bildenden Künstler der modernen Zeit zur Hoffnungslosigkeit verurteilt, so lange sie der Musik „als Führerin in eine neue Schauwelt entrathen“ (eKGWB/WB-5) wollten.

26. Wenn sie in ihrem innerlichen Schauen immer noch keine neuen Gestalten vor sich sehen, sondern hinter sich die alten, so sind sie die Diener der Historie, nicht des Lebens: Leben heißt aber gegenwärtig, nach Nietzsche, Musik, und so schließt er, mit einer Anspielung, die als eine solche auf Hillebrands Hoffnungen nur uns bekannt sein kann:

27. wer aber jetzt wahres, fruchtbares Leben, das heisst gegenwärtig allein: Musik in sich fühlt, könnte der sich durch irgend Etwas, das sich in Gestalten, Formen und Stylen abmüht, nur einen Augenblick zu weiter tragenden Hoffnungen verführen lassen? Ueber alle Eitelkeiten dieser Art ist er hinaus (eKGWB/WB-5)

28. Noch im Sommer 1876 kamen für den wagnerschen Kulturrevolutionär Nietzsche Zeiten der Besinnung und Ernüchterung. Er näherte sich immer mehr einer konservativ-aufklärerischen, historistischen Geisteshaltung, die in vieler Hinsicht derjenigen Hillebrands ähnelte.

29. Mitte April 1878 war das Werk fertig, in dem sich der Abschied von der Metaphysik der Kunst, von Schopenhauer und von den wagnerschen Hoffnungen niedergeschlagen hatte. Nietzsche wartete in Naumburg auf das Erscheinen jenes Werks: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister; er setzte Karl Hillebrand auf die Liste derer, die ein Freiexemplar davon bekommen sollten und schrieb einen symptomatischen Brief an seinen getreuen Leser und Rezensenten, der – wie wir wissen – der negative Anlaß zu einem Aphorismus gewesen war. Diese Tatsache bietet mir Gelegenheit, eine, wie ich meine, nicht unwichtige Frage zu stellen. In welchem Verhältnis stehen solche persönlichen Verbindungen, die übrigens nur in ganz seltenen Fällen erschließbar sind, mit der literarischen Formulierung, bzw. mit der theoretischen oder psychologischen Bedeutung der Aussage in einem veröffentlichten und somit unpersönlich gewordenen Werk? Ich glaube, letzten Endes, in gar keinem, oder vielmehr in keinem guten, nützlichen, wenn sie uns dazu verführen sollten, ein ganzes Buch auf persönlich-empirische Motive zu reduzieren, wie gerade im Falle von Menschliches, Allzumenschliches damals geschah (man denke z.B. an die Reaktion der Bayreuther). Der nützliche Gebrauch solcher Fakten besteht dagegen in der Möglichkeit, die sie uns bieten, die Atmosphäre, die Sensibilität historisch konkret zu erfassen, in welcher der Autor lebte. Ob sie in Bezug auf Hillebrand zutrifft oder nicht, so bleibt die Sentenz über die Menschen der öffentlichen Meinung, die dieser um zehn Jahre vorauseilen, in ihrer Bedeutung gültig und abgeschlossen, als Beispiel des moralistischen Denkens im Zeitalter der Zeitungen. Wiederum kann die kleine trouvaille, daß Hillebrand der Auslöser jener Sentenz war, sehr schnell zu einer Kleinlichkeit entarten, sei es, wenn man sich deren bedient, um etwa Nietzsches Doppelzüngigkeit hervorzuheben, sei es, auch wenn sie als Herabsetzung Hillebrands mißbraucht wird. Daß das Geschehen des Denkens, des Schreibens lebendig in seinem Humus wird, das ist das beste Geschenk, das wir dem Philologen verdanken können, nicht die klatschsüchtige, blasierte Überheblichkeit dessen, der es – weil er zufällig in einem kritischen Apparat geblättert hat – nun besser weiß.

30. Was schrieb Nietzsche an Hillebrand Mitte April 1878?

31. nach einem Winter schwerer Erkrankung genieße ich jetzt im Wiedererwachen der Gesundheit Ihre vier Bände „Völker Zeiten und Menschen“ und freue mich darüber wie als ob es Milch und Honig wäre. O Bücher, aus denen eine europäische Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff! Wie das den Lungen wohlthut! Und dann: ich möchte den Autor sehen, der Ihnen an Unbefangenheit und wohlwollendem Gerechtigkeits-Sinne gleichkäme —oder vielmehr: ich will mich bemühen, alle Autoren — wie wenige werden es aber sein! — kennen zu lernen, die Ihnen in Betreff jener hohen Tugenden nahe kommen. — (eKGWB/BVN-1878,707)

32. Und da er in Hillebrands Bänden die drei Rezensionen seiner drei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen wieder zu Augen bekommen hatte, schloß Nietzsche seinen Brief so ab:

33. es ist bei weitem das Einzige , was mir von dem, was mir von Urtheilen über dieselben bekannt geworden ist, wirklich Freude gemacht hat. Denn hier urtheilt ersichtlich die Überlegenheit (in Erfahrung und Geschmack und einigen andren Dingen —), da ergreift der Beurtheilte, wenn er kein Narr ist, mit Vergnügen gegen sich selber Partei. Und wie gerne man von Ihnen lernt! (eKGWB/BVN-1878,707)

34. Die Überlegenheit Hillebrands in Erfahrung und Geschmack: gerade darüber hatte es zwischen Nietzsche und den Bayreuthern eine Art symptomatischen Streit gegeben, und zwar 1874, als das Bündnis mit Wagner noch bestand; es ist bezeichnend, daß sich Nietzsche dieser Episode unbewußt erinnert und gegen Richard und Cosima Wagner, selbstverständlich ohne sie zu nennen, vielleicht –wie gesagt – auch ohne an sie unmittelbar zu denken, seine hohe Meinung über Hillebrand auf dieselbe Weise behauptet. „… reisen Sie, und bereichern sich an all den herrlichen Erfahrungen, welche Hillebrand so vielseitig und (in Ihren Augen) beneidenswerth machen“, hatte Wagner April 1874 in einem väterlich-freundlich besorgten Brief geschrieben (Wagner am Nietzsche, 6. April 1874; Brief Nr. 529a, KGB II/4, S. 654-656). In einem Parallelbrief aus denselben Tagen meinte Cosima Wagner ihrerseits, nachdem sie Nietzsche vorgeworfen hatte, „die breite Oberflächlichkeit der Hillebrandtschen Bildung“ beneidenswert zu finden, daß sich Hillebrand mit seinem Geschmack brüste, während dieses Wort, auf ästhetische Dinge angewendet, die gerechtfertigtste Abneigung verdiene: „Ich wüsste kein Genie welches Geschmack hätte, und kein Geschmackvoller welcher nicht zu Zeiten, d.h. wenn es sich um tiefe Dinge handelt, nicht recht abgeschmackt wäre“ (Cosima Wagner an Nietzsche, 20. April 1874; Brief Nr. 536, KGB II/4, S. 449). Auch in diesem Punkt war Nietzsche nach vier Jahren dabei, sich von Wagner loszulösen.

35. Nietzsches Philosophie des freien Geistes fand tatsächlich eine viel wärmere Zustimmung von Seiten Hillebrands, als seine z. T. recht pathetischen Predigten aus der Seele eines Unzeitgemäßen. Menschliches, Allzumenschliches, das – wie er schrieb – in Wesen und Form milder als die Unzeitgemäßen Betrachtungen war und in Vielem tiefer ging, zog er jenen früheren Schriften Nietzsches vor. Er wollte sogar „unter der Hand soviel Propaganda“ als möglich für diesen neuen Nietzsche machen.

36. Nachdem ich aber zwei ausführliche Essays veröffentlicht […] und auf sein letztes Werk energisch hingewiesen, dürfte es als eine Koteriesache herauskommen, träte ich noch einmal, anders als parenthetisch, in seiner Sache auf. Das muß bei der großen Gegnerschaft, die er hat, auf das strengste vermieden werden. Dagegen werde ich ihn vorübergehend so oft als möglich als einen der bedeutendsten jüngeren Schriftsteller citiren. Ich weiß, es ist ein schlechtes Geschäft, gediegene Autoren zu heben, allein es zählt doch, freilich spät, aber dann um so sicherer: in zehn, fünfzehn Jahren werden Nietzsche's Schriften eine gewaltige Nachfrage finden, daher seien Sie sicher und verlieren Sie den Muth nicht. (KSA 15, S.106-107)[2]

37. So schrieb Hillebrand an Nietzsches Verleger Ernst Schmeitzner im Juli 1879. 15 Jahre später war tatsächlich die Nachfrage nach Nietzsches Schriften gewaltig.

38. Ob Nietzsche dadurch mit seinem Aphorismus Recht behalten hat? Vielleicht, dann aber so, daß er selber das wurde, was er nie hätte sein wollen: eine Mode. Die Mode wiederum der neunziger Jahre war der Nietzsche von Also sprach Zarathustra. Gerade dieses Buch sollte der todkranke Hillebrand noch zu Gesicht bekommen. Es gefiel ihm nicht. Der bewegende Begleitbrief Nietzsches zum ersten Zarathustra erschütterte ihn, dennoch war sein Urteil nach der Lektüre streng:

39. Ich finde wirklich Bewundernswerthes, geradezu Großes darin: aber die Form läßt keine rechte Freude daran aufkommen. Ich hasse das Apostelthum und die Apostelsprache; und gar diese Religion, als Der Weisheit letzter Spruch, bedarf der Einfachheit, Nüchternheit, Ruhe im Ausdruck. Auch hab’ ich keine rechte Sympathie mit Menschen, die nach dem 40. Jahre noch Wertherisch an sich herumlaboriren, anstatt frank und frei vor sich in den Tag hinein zu leben; deßhalb bedaure ich solche Geisteskranke, denn das sind sie, nicht minder. Auch Nachdenken über sich selber und nicht Herauskönnen aus sich selber ist eine böse Kinderkrankheit; die sollte man mit dem 30. Jahre überwunden haben.[3]

40. So urteilte er in einem Brief an Hans von Bülow vom September 1883. Und dies war ein Urteil gegen die spätere Mode, die nach genau zehn Jahren zuerst in Deutschland, dann in ganz Europa ausbrechen sollte. Über Zarathustra ist man auch heute noch inmitten der sogenannten Nietzsche-Renaissance etwas verlegen und unsere Reaktion darauf ist derjenigen Hillebrands sehr ähnlich. Nur im Ganzen der geistigen Peripetie Nietzsches vermögen wir, uns einen Zugang zu diesem schwierigen schrill-erhabenen Werk zu schaffen, in dem notwendigerweise das Lachen zu einem freudlosen unmenschlichen Krampf entstellt wird, der ständig vorgegebene Tanz wie eine peinliche Metapher, ja wie das Klappern greiser Gebeine anmutet, Dichtung vollends nie als solche stattfindet, sondern immer nur als überspannte Seiltänzerei des Wortes, weil sie, die Dichtung, in der Welt Zarathustras, der öden Wüste des reinen Denkens und des verzweifelnden Erkennens, nicht mehr möglich, nicht mehr statthaft ist.

41. Sollte ich nun zusammenfassend sagen, worin Hillebrands anhaltende Bedeutung für Nietzsche bestand, so würde ich erstens auf die nach dem Bruch mit Wagner und Schopenhauer neugewonnene und seitdem nicht mehr verlassene historische Haltung, zweitens und endlich auf die entscheidende Wendung zur französischen Kultur hinweisen, beides verdankte Nietzsche auch Hillebrand.

[1]Eine ähnliche Formulierung findet sich im Brief Nietzsches an Gersdorff vom 26. Dezember 1873, eKGWB/BVN-1873,335.
[2]Siehe auch Hauke Reich, Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken 1872-1889, Berlin/Boston 2013, S.544. Die bibliographischen Referenzen sind von der Redaktion hinzugefügt.
[3]Der Brief von Hildebrand datiert vom 16. September 1883. Siehe Hans von Bülow, Briefe und Schriften, Bd. 6, Leipzig 1907, S. 222, zitiert in: Hauke Reich, Rezensionen..., S. 592.