Erkenntniskritik und Willen zur Macht?

Kommentar zu Maximilian Drossbach: „Ueber die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt.“ 1884

Helmut Heit

Although Nietzsche never mentions Drossbach’s name nor the title of this work, the annotations prove a very dedicated reading. Underlining, markings and notes on 66% of all pages make this one of the most heavily annotated works in Nietzsche's library. A comparison with his Nachlass shows that Nietzsche presumably read Drossbach’s book in spring or summer 1885. Various semantically rich annotations such as question marks or “NB” (nota bene) and commentaries such as “Esel” or “sehr gut” indicate a critical reading, oscillating between approval and rejection. Drossbach argues that empiricists and transcendentalists equally fail to explicate the true nature of the world and of human knowledge. Both philosophical traditions focus on appearances, which do not exist. Drossbach’s alternative ontology and epistemology rather assumes interactions between receptive force-substances (Kraft-Wesen). Drossbach’s discussion of Leibniz, Hume and Kant, of dynamic forces, causation and interaction, of sensualism, positivism, idealism has rich relations to Nietzsche's statements about epistemology and ontology, ‘will to power’, natural laws, and psychology, especially during the work on Beyond Good and Evil. Drossbach’s critical analysis, however, finds generally more approval in Nietzsche’s annotations than his positive account of the true causes of events in the world. Drossbach thereby appears less as an original source of new knowledge or ideas, but rather as a partly affirmative, partly refutable interlocutor.

Schlagworte: Erkenntnistheorie, Kausalität, Idealismus, Subjektivismus, Empirismus, Realismus, Materialismus, Determinismus, Natur, Kraft, Wille zur Macht, Wechselwirkung, Leibniz, Hume, Kant

1. Inhalt und Signifikanz des Werkes

1. Sowohl der Autor wie auch der Inhalt des hier zu kommentierenden Werkes ist heute weitgehend unbekannt. Maximilian Drossbach (auch Droßbach; geb. am 20. Januar 1810 in Bamberg, gest. am 8. Februar in Donauwörth) übernahm nach einem Studium der Mathematik und Mechanik die Leitung verschiedener Spinnereien, bevor er 1865 im bayerischen Bäumenheim seine eigene Leinenspinnerei- und Weberei M. Droßbach & Co gründete. In der Philosophie, für die er sich schon früh und verstärkt nach dem frühzeitigen Tod seiner ersten Frau 1845 interessierte, blieb er trotz der Publikation von 12 Schriften nicht nur institutionell, sondern auch inhaltlich ein Außenseiter[1]. In einem Briefwechsel mit Kuno Fischer hat ihm dieser davon abgeraten, den beruflichen Wechsel aus der Industrie in die Philosophie zu wagen. Zunächst sind seine Arbeiten dem Versuch gewidmet, die Unsterblichkeit der individuellen Seele im Rahmen eines nicht-religiösen wissenschaftlichen Weltbildes zu begründen. In der unendlichen Dauer der Zeit würden die empfindungsfähigen Elemente der Wirklichkeit wieder in identischen Organisationen zusammenfinden und so eine bewusste Wiederverkörperung realisieren. Seine erste Publikation Wiedergeburt oder: Die Lösung der Unsterblichkeitsfrage auf empirischem Wege, nach den bekannten Naturgesetzen erscheint 1849[2].

2. Später wandte sich Drossbach vermehrt erkenntnistheoretischen Problemen zu, wobei die Grundlage seiner spezifischen Naturphilosophie unvergänglicher Zentralatome oder Kraftwesen trotz diverser Modifikationen wesentlich bestehen bleibt. Seine Schrift Ueber Erkenntnis von 1869wurde noch im selben Jahr von Julius Frauenstädt in den Philosophischen Monatsheften besprochen. Frauenstädt nennt ihn „einen selbständigen, resoluten Denker,“ der sich auch vor Paradoxien nicht scheue[3]. Seine Kritik der „Kant’schen Beschränkung des menschlichen Erkennens auf Erscheinungen“ zugunsten einer unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis der Wirklichkeit teilt Frauenstädt letztlich nicht[4]. Drossbachs These, wonach Raum, Zeit und Kraft uns weder aus Begriffen noch aus empirischer Forschung bekannt seien, wohl aber immer schon aus der eigenen Erfahrung gegeben, sei mit ihren eigenen Mitteln nicht zu rechtfertigen. Dass seine Erkenntnistheorie auf einer bestimmten Metaphysik beruhe, sei zwar für sich genommen unvermeidlich und daher nicht zu beanstanden, aber die Art dieser Metaphysik sei weder widerspruchsfrei denkbar noch mit der Erfahrung vereinbar, so dass ihm vor den Behauptungen „Drossbachs der Verstand stille steht[5]“. Frauenstädt sieht hier daher schließlich den einseitigen Gedanken einer „übertriebenen Unbedingtheit[6],“ der zudem an seinem eigenen unbegründeten Anspruch auf Absolutheit scheitere[7]. Ähnlich ausgewogen distanziert äußert sich Frauenstädt auch in den Blättern für literarische Unterhaltung (Nr. 48, 1870) sowie in Neue Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie (Brockhaus 1876). Dort notiert er, dass die Lehre, wonach alle Wesen sowohl wollend (appetitus) wie auch vorstellend (perceptio) seien, schon von Leibniz und nun nach Schopenhauer auch wieder von Drossbach vertreten werde[8]. Es zeigt sich, dass Nietzsche ungeachtet seiner Aversion gegen Frauenstädt letztlich mit Blick auf Drossbach zu ähnlichen Einschätzungen kommt.

3. Eine Zusammenstellung der positiven Passagen aus Besprechungen von Frauenstädt und anderen gibt Drossbach im Anhang zu einem Büchlein Über die verschiedenen Grade der Intelligenz und der Sittlichkeit von 1873 (S. 111-114). Besonders wohlwollend äußert sich Kuno Fischer in Blätter für literarische Unterhaltung (Nr. 19, 1861), indem er das Bemühen um eine Verbindung von Philosophie und Wissenschaft und insbesondere den Versuch anerkennt, „die Leibnitz’sche Monadenlehre zu naturalisiren, d.h. ihr den supranaturalen Charakter der vorherbestimmten Harmonie zu nehmen[9].“ Ihre Rechtfertigung gegenüber der kritischen Philosophie stehe indes noch aus, wobei dieser Ansatz darin mit manchem anderen vergleichbar sei. Karl Ludwig Michelet stellt sich in der Zeitschrift Der Gedanke (Bd. 8) positiv zu Drossbachs Konzentration auf das Unbedingte. Weitere Auseinandersetzungen finden sich etwa in Blätter für literarische Unterhaltung von Karl Fortlage, sowie in einem Buch mit dem Titel Zur Naturforschung (1858) von Ernst Bischoff. Seine Arbeit über Das Wesen der Naturdinge und die Naturgesetze der individuellen Unsterblichkeit (1855) wurde durchaus auch als wissenschaftliche Restitution des Religiösen aufgefasst, etwa bei Karl Gutzkow in Unterhaltungen am häuslichen Heerd (Nr. 16, I. Band) sowie in einer Rezension, die 1855 in den Katholischen Blättern für Litteratur (Nr. 48) und 1856 gleichlautend in den Hamburger literarischen und kritischen Blättern erscheint. Die einzige lexikalische Notiz zu „Droßbach, Max.“, ein Eintrag von vier knappen Sätzen in Rudolf Eislers Philosophen-Lexikon, stellt ihn, wie schon Fischer und Frauenstädt, in die Tradition Leibniz’schen Denkens[10].

4. Im Vorwort zu Ueber die scheinbaren und wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt bekennt Drossbach, mühsam gegen Jahrhunderte der Vorurteile und Gewohnheiten zu arbeiten. Tatsächlich lassen sich damit diverse Redundanzen in seinem Buch erklären. Nachdem er in früheren Schriften zu zeigen versucht habe, dass die sinnliche Wahrnehmbarkeit der materiellen Dinge eine Illusion ist, widme er sich nun dem zweiten Grundirrtum, nämlich der Idee einer Kausalität der Erscheinungen. In einem ersten Schritt unterzieht Drossbach bisherige Auffassungen von Kausalität in den Erscheinungen (Kap. 1) und in der Erfahrung (Kap. 2) einer grundsätzlichen Kritik. Erfahrung sei zwar tatsächlich die wichtigste Quelle menschlicher Erkenntnis, aber weder im Sinne eines naiv an die Realität der Erscheinungswelt glaubenden Materialismus, noch im Kantischen Sinne eines Vermögens der Sinnlichkeit (Kap. 3). Die mutmaßlichen Eigenschaften der Erscheinungsdinge seien vielmehr von uns in die Natur hinein gelegt. Reale Ur-Sache und Wirklichkeit seien hingegen die ewig beständigen „Kraftwesenheiten“ (BN/Drossbach-1884,17).

5. Die weiteren Kapitel sind einer Erörterung dieser Kraft-Konzeption gewidmet. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Konzept der Wechselwirkung zu, welches bei Drossbach an die Stelle der einseitigen Kausalbeziehungen tritt (Kap. 4). Insbesondere der scheinbaren Notwendigkeit des Geschehens in der Natur und in den Handlungen der Menschen widmet Drossbach größere Aufmerksamkeit. Die Erfahrungstatsache der konstanten Sukzession sei keine Folge von Naturgesetzen (Kap. 5). Der Mensch nimmt in dieser Naturnotwendigkeit eine Sonderrolle ein. Da er als komplexe Wechselwirkungsform über Gedächtnis, Bewusstsein und Vorstellungsvermögen verfüge, könne er unmittelbare Reaktionen aussetzen und zwischen verschiedenen Reaktionsweisen wählen. Die Naturphilosophie Drossbachs lässt somit explizit Raum für menschliche Sittlichkeit. Die Kraftsubstanzen treten, wie Drossbach abschließend ausführt, in Wechselwirkungen und bilden Wechselwirkungsverhältnisse (Kap. 6). In diesen Prozessen bildeten sich im Laufe der Zeit immer erneuerte und vollkommenere Verbindungen, die sich im Menschen als bewusstes Streben nach sittlicher Vervollkommnung wiederfinden. Im Drang zur Perfektionierung sieht Drossbach die Möglichkeit, den Weltzweck jenseits der falschen Alternative von blinder Mechanik und zwecksetzender Spekulation zu begreifen. In einem Nachwort konstatiert er, dass die Grundirrtümer der historischen Entwicklung des Abendlandes von Platon und Aristoteles bis zu Bacon und Descartes erst erkannt und überwunden werden können, wenn ein neuer Standpunkt gefunden sei. Die falsche Alternative von Idealismus und Empirismus hingegen führe entweder zu Unvernunft oder Verzweiflung.

6. Im Anhang des Werkes findet sich die bereits 1875 in den Monatsheften gedruckte Untersuchung über die Wahrnehmbarkeit der Erscheinung und die Unwahrnehmbarkeit der Wesen. Auch hier argumentiert Drossbach, wahrnehmbar seien weder Körper, Erscheinungen oder Vorstellungen, sondern allein widerstrebende Kräfte. Diese allerdings seien uns unmittelbar und somit auch unfehlbar bekannt. Daher habe der Subjektivist recht, dass die Erscheinungswelt von unseren Vorstellungen abhänge, während zugleich der Objektivist recht habe, dass die Wirklichkeit nicht vom Subjekt abhänge. Nach der Auffassung von Drossbach ist vielmehr tatsächlich die Erfahrung Grundlage allen Denkens und aller Erkenntnis, aber nicht als empirische Reflektion der Erscheinungen, sondern als unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der wirklichen Ur-Sachen und Kraft-Wesen.

7. Die zeitgenössische Signifikanz dieser letzten Publikation Drossbachs ist marginal, eine eigenständige Würdigung ist nicht bekannt. Thematisch kann sie hingegen als Summe seiner naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen gelten, auch wenn die in seinen frühen Schriften dominanten Themen ‚Unsterblichkeit‘ und ‚Wiedergeburt‘ nur implizit präsent sind. Schon ein erster Überblick über ihre Inhalte und Themen lässt ahnen, warum Drossbachs Studie aus verschiedenen Gründen für Nietzsche von Interesse war.

2. Kommentar der Lesespuren

8. Die Lesespuren weisen eine engagierte und kritische Beschäftigung Nietzsches mit fast dem ganzen Text nach. Während bei Randstrichen und Unterstreichungen naturgemäß unklar ist, für wie plausibel der Lesende das so Markierte ansieht, versieht Nietzsche den Text auch mit zahlreichen semantisch gehaltvollen Zeichen und sogar mit weiterführenden Gedanken. An dem mitunter sehr schnellen Wechsel zwischen Ausrufungszeichen und Fragezeichen, zwischen ‚gut‘ oder ‚nota bene‘ und ‚Esel‘ oder ‚Hornvieh‘ zeigt sich, wie präzise Nietzsche zumindest an einigen Stellen in seinem Urteil abwägt. Bemerkenswert ist auch, wo Lesespuren fehlen. Zur Kommentierung der Lesespuren rekonstruiere ich zugleich den Gedankengang Drossbachs. Alle Unterstreichungen in den folgenden Zitaten aus Drossbachs Werk sind aus Nietzsches Exemplar übernommen, andere Hervorhebungen entstammen dem Druckbild des Originals, wobei Sperrungen kursiv wiedergegeben werden.

2.1. Vorwort. (S. III-IV)

9. Ähnlich wie Nietzsche im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse stellt sich auch Drossbach in seinem Vorwort die Aufgabe, die Vorurteile der Philosophen zu problematisieren. Insbesondere geht er davon aus, dass der geradezu kindliche Glaube an die sinnliche Wahrnehmbarkeit der materiellen Dinge eine Illusion und ein hartnäckiges Vorurteil ist (BN/Drossbach-1884,III). Auf Seite V werden die bisher von Drossbach publizierten Schriften aufgelistet. Lesespuren Nietzsches finden sich hier nicht.

2.2. Erstes Capitel. Gegen die Causalität der Erscheinungen. (S. 1-7)

10. Drossbach erinnert gleich eingangs daran, dass David Hume unumstößlich die Unmöglichkeit bewiesen habe, das Kausalitätsprinzip aus der Beobachtung der Erscheinungen abzuleiten, auch wenn er zugleich wie alle Empiriker dem falschen Dualismus von Sinnlichem und Übersinnlichem huldige. Nietzsche markiert in seinen ersten Anstreichungen Drossbachs Referat von Hume, wonach die „causale Aufeinanderfolge der Erscheinungen durch die Erfahrung nicht zu begründen ist“ (BN/Drossbach-1884,1). Auch auf der folgenden Seite ist Nietzsche die Zusammenfassung der Position Humes eine Markierung wert: „Es ist der Vernunft ganz unmöglich, einen Causalzusammenhang verschiedener Vorstellungen zu erkennen. So Hume. Diese Erklärung ist unumstösslich“ (BN/Drossbach-1884,2). Diese und weitere Lesespuren dokumentieren die Bedeutung von Drossbachs Text für Nietzsches Verständnis von Humes unwidersprechlicher Kritik des Kausalitätsprinzips, die sich unter anderem in einem Notat aus dieser Zeit findet (vgl. NF-1885,34[70]). Auch die folgende Frage, ob anstelle der Erfahrung „ein besonderes Vermögen des Verstandes anzunehmen ist“ wird von Nietzsche unterstrichen (BN/Drossbach-1884,2).

11. Auf Seite 3 gibt es keinerlei Lektürespuren, aber es findet sich dort eine in der Quellenforschung zu Nietzsche öfter besprochene Passage. Drossbach warnt davor, aus dem posthoc auf ein propterhoc zu schließen und die Tatsachen der Erscheinungen mit vorgängigen Tätern zu identifizieren: „Die Handlung handelt nicht, der Druck drückt nicht, der Schlag kann nicht schlagen, das Licht leuchtet nicht, der Ton tönt nicht u.s.f.“ (BN/Drossbach-1884,3). Auch Kant hält er vor, das notwendige Aufeinanderfolgen in der Zeit mit Kausalität zu verwechseln. Diese Ausführung gilt mitunter anstatt der Lektüren von Trendelenburg oder Lichtenberg als tatsächliche Quelle für Nietzsches Kritik einer Rede- und Denkweise, wonach ‚der Blitz leuchtet‘ (GM-I-13; vgl. NF-1885,2[78], 84, 193][11]). Obwohl ein vager Bezug gegeben ist, sind auch die Differenzen zu beachten. So fehlt bei Drossbach nicht nur die sprachphilosophische Seite der Kritik, die in Nietzsches Argument zentral ist, sondern auch die Metapher des Blitzes. Dort, wo Drossbach später von Blitzen redet, notiert Nietzsche zwar ein zustimmendes ‚NB‘ und ein ‚ja‘ am Rand, aber der Kontext ist ein anderer (BN/Drossbach-1884,75f). In beiden Fällen beruht Drossbachs Argumentation auf der Unterscheidung von falsch postulierter Kausalität der Erscheinungen und tatsächlicher Wirksamkeit wechselwirkender ‚Ur-Sachen‘, die sich bei Nietzsche gerade dem Metaphysik-Verdacht aussetzt.

12. In Abgrenzung zum klassischen Sensualismus definiert Drossbach: „Erscheinung ist stets ein rein subjektiver Gemüthszustand in uns“ (BN/Drossbach-1884,4). Der traditionelle Kausalsatz unterstelle daher fälschlicherweise, dass die Erscheinungen selbst Ursachen sind, während die Erscheinungen in Wirklichkeit Ursachen haben. Auch diese Überlegung ist mit Markierungen versehen, wobei sich kurz danach zeigt, an welcher Stelle Nietzsches kritische Distanz zu Drossbach einsetzt. Mit Blick auf das tatsächliche „Realprincip“ und die „reale causa“ schreibt Drossbach: „Nur Substanzen, Wesen sind Causalitäten. Ursache ist Ur-Sache, ist ursprüngliche Sache – eine Sache vor welcher keine andere Sache mehr vorhanden ist“ (BN/Drossbach-1884,5). Nietzsche versieht das mit einem Fragezeichen. Diese erste semantische Lesespur signalisiert eine eigenständige Ausgewogenheit in Nietzsches Beschäftigung mit Drossbach, die im Folgenden noch deutlicher wird. Während Nietzsche allem Anschein nach die Kritik der traditionellen Auffassung von Kausalität teilt, problematisiert er die alternative, spekulative Konzeption einer tatsächlichen Ur-Sache. Interessant ist dabei allerdings, dass er dieser Idee im Laufe der Lektüre scheinbar doch mehr und mehr abgewinnen kann, ohne die Vorbehalte aufzugeben.

13. Drossbach problematisiert die Idee, jede Veränderung der Erscheinungen sei durch eine vorherige Veränderung verursacht. In nur impliziter Assoziation zu Kants erster Antinomie weist Drossbach sowohl die These eines Anfangs wie auch der Anfangslosigkeit der Welt zurück. Die Kritik eines kosmologischen Ursprungs lässt Nietzsche unkommentiert. Aber Drossbachs Argument, die These einer anfangslos unendlichen Vergangenheit führe in den unvereinbaren Widerspruch, die Gegenwart als vollendetes Unendliches zu denken, überzeugt Nietzsche offenbar nicht. Er notiert am Rand: „falsch – Die Unklarheit wirkt in der doppelten Fassung des Wortes ‚endlos‘!“ (BN/Drossbach-1884,6). Diese Randnotiz markiert eine klare Abgrenzung von Drossbachs Kritik der Unendlichkeit, die zum Verständnis von Nietzsches Auffassungen von Zeit, Unendlichkeit und ewiger Wiederkunft hilfreich sein kann.

14. Drossbach beendet das Kapitel mit dem Hinweis, dass auch für John Stuart Mill die alltägliche Erfahrungstatsache für die notwendige Korrelation von Ereignisfolgen hinreichend sei, ohne dass von der Entstehung der Erscheinungen oder „Natur der ‚Dinge an sich‘“ (BN/Drossbach-1884,6) die Rede sein müsse.

2.3. Zweites Capitel: Gegen die auf der Causalität der Erscheinungen ruhende Erfahrung. (S. 7-10)

15. Nachdem Drossbach im ersten Kapitel zu zeigen beansprucht, dass die Idee einer Kausalität der Erscheinungen irrig und widerspruchsvoll ist, wendet er sich nun der Erfahrungserkenntnis zu. Den Grundsatz der Physik „jede Veränderung in der Natur hat ihre Ursache“ unterstreicht Nietzsche ebenso wie die von Drossbach kritisierte Idee, dass diese Ursache ihrerseits eine „vorhergegangene Veränderung“ sein müsse. Am Fuß der Seite notiert Nietzsche zwei Gedanken, die wie eine Zusammenfassung der Thesen Drossbachs wirken: „Dafür, daß ein Ding sich ändert, kann der Grund nur in einem anderen Ding liegen“ und daneben: „Kritik des Begriffs ‚Veränderung‘ – er setzt den Glauben an ‚Dinge‘ voraus“ (BN/Drossbach-1884,7). Während Drossbach indes nur in der Paraphrase Mills kritisch von ‚Dingen an sich‘ spricht, sonst aber von Erscheinungen, rückt Nietzsche in seiner Notiz den Begriff des Dings ins Zentrum.

16. Drossbach bestreitet nicht das Kausalitätsprinzip (nihil fit sine causa), sondern entwickelt eine andere Konzeption von Ursache. Daher würdigt er auch nochmals Humes Nachweis, dass der Begriff der Kausalität weder aus der Erfahrung geschöpft, noch durch das Denken gerechtfertigt sei. Humes eigene Begründung, wonach wir aus Gewohnheit aus der regelmäßigen Sukzession auf eine kausale Beziehung schließen, teilt Drossbach allerdings nicht: Indem Hume den Begriff der Kausalität der Erscheinungen auf die Gewohnheit bezieht, hat er ihn „nicht gerettet; was hilft es, diesen Begriff irgend wie begründen zu wollen, da er eine Illusion ist.“ Diesen Einwand versieht Nietzsche mit einem „gut“ (BN/Drossbach-1884,8).

17. Die Erfahrungserkenntnis, so Drossbach, ruht auf Illusion und ist Illusion. Kant habe zwar mit Recht gegen Hume betont, dass der Verweis auf Gewohnheit keine denkerische Notwendigkeit enthalte – dazu verweist Drossbach auf Kuno Fischers Buch über Francis Bacon –, aber Kant sei wie Hume der Meinung, dass die Erscheinungen die kausal verknüpften Objekte unserer Erfahrung seien, und dass das Prinzip der Kausalität weder durch die Erfahrung noch durch das Denken gerechtfertigt sei. Beide Übereinstimmungen werden von Nietzsche unterstrichen (BN/Drossbach-1884,8f). Kant stelle daher dem analytisch urteilenden gewöhnlichen Denken das synthetische Urteil zur Seite, in dem verschiedene Vorstellungen verknüpft werden: „Um also den causalen Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungen zu erklären, muss man ausser dem gewöhnlichen Denken noch ein anderes, ein synthetisches, annehmen; nur durch ein solches Denken sei der causale Zusammenhang der Erscheinungsdinge zu erklären, und nur durch solche Verknüpfung der Erscheinung sei Erfahrung möglich.“ Hier notiert Nietzsche am Rand: „das synthet<etische> Urtheil ist ein fals<ches> Urtheil!“ (BN/Drossbach-1884,9).

18. Interessanterweise geht Nietzsche mit dieser Randbemerkung deutlich über das im Text Gesagte hinaus, denn Drossbach äußert sich nicht zum Wahrheitswert synthetischer Urteile und bezeichnet sie nicht direkt als falsch. Bei Nietzsche hingegen lässt sich der Gedanke, das synthetische Urteil sei eine „falsche Gleichung“, schon lange vor der Drossbach-Lektüre nachweisen (NF-1872,19[242]).

19. Drossbach betont vielmehr, dass Kant diese Verknüpfung ausdrücklich nur auf die Sphäre der Erfahrungen bezieht, nicht auf die mutmaßliche Beziehung der Dinge an sich, deren Charakter unbekannt ist. Nietzsche hebt die konditionale und funktionale Dimension der Synthesis durch Unterstreichung hervor: „Dieses Vermögen ist nur angenommen worden, um die Causalverknüpfung der Erscheinungen zu erklären“ (BN/Drossbach-1884,9). Warum aber das Vermögen des Verstandes gerade solche und nicht etwa andere Verbindungen herstelle, darüber gebe Kant keine Auskunft. Nach der plausiblen Auffassung von Rüdiger Schmidt gehört diese Stelle zu den Kontexten von NF-1885,34[82] und NF-1885,34[171] und damit auch von JGB-4, 11[12]. Zudem falle, so Drossbach, die Kantische Erklärung der kausalen Verknüpfung durch ein „Vermögen des Verstandes“ weg, da die zu erklärende Verknüpfung selbst nur eine Einbildung sei. „Und überhaupt, eine Erscheinung dadurch erklären zu wollen, dass man ohne Weiteres ein Vermögen annimmt, welches die fragliche Erscheinung erklären soll, heisst auf Erklärung verzichten. (Vergl. O. Flügel: Die Probleme der Philosophie etc.)“ (BN/Drossbach-1884,10f[13]).

20. Darin klingt die süffisante Polemik an, mit der sich Nietzsche über die Kantische Erklärung „Vermöge eines Vermögens“ lustig macht (JGB-11). Wie Drossbach geht auch Nietzsche zudem davon aus, dass die Frage Kants falsch gestellt sei. Allerdings ist bei Drossbach im Unterschied zu Nietzsche weder von der physiologischen Notwendigkeit synthetischer Urteile für eine bestimmte Art von Leben die Rede, noch von dem etwaigen „Recht“ zu solchen Urteilen (JGB-11). Zudem ist eine zentrale Vorstufe dieser Passage, nämlich NF-1884,30[10], vermutlich schon vor der Lektüre Drossbachs entstanden, so dass sich Nietzsche in seiner Einschätzung durch Drossbach weniger inspiriert als vielmehr bestätigt gesehen haben wird.

21. Für Drossbach scheitern letztlich sowohl Hume wie auch Kant in ihren Antworten, weil sie fälschlicherweise nach der Kausalität der Erscheinungen fragen. Nietzsches Unterstreichungen und ein „NB“ sowie dann ein „!“ am Rand dokumentieren seine Zustimmung: „Die Frage: wie ist die Causalität der Erscheinungen zu begreifen, setzt voraus, dass eine solche besteht und möglich ist. So lange man den Irrthum dieser Voraussetzung nicht einsieht, bemüht man sich vergeblich, die Frage zu beantworten, sobald man ihn einsieht, stellt man die Frage nicht“ (BN/Drossbach-1884,10). Das Konzept der Erscheinungserfahrung sei „leerer Schein und Trug“ (BN/Drossbach-1884,10). Nietzsche zitiert diese Formulierung an zwei Stellen im Notizheft N VII 1 (NF-1885,34[120, 131]). Aufgrund dieser Zitate lässt sich Nietzsches Beschäftigung mit Drossbach auf die Zeit zwischen April und Juni 1885 datieren[14]. Insbesondere ein Blick in die diplomatische Edition von Nietzsches Nachlass in der KGW IX zeigt allerdings, dass Nietzsche selbst in der Zitation neue und andere Kontexte herstellt. Drossbach schließt, nachdem sich die Annahme, „wonach in den Erscheinungen die Ursachen der Veränderung liegen sollen“ als Irrtum erwiesen habe, sei man „gezwungen, nach anderen Ursachen zu suchen“ (BN/Drossbach-1884,10).

2.4. Drittes Capitel. Sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung. (S. 11-16)

22. Zu Beginn des dritten Kapitels setzt Drossbach seinen Gedankengang auf eine Weise fort, die von einer kritischen zu einer konstruktiven Erwägung übergeht: „Alle menschliche Erkenntnis besteht in der Erfahrung, aber die Erfahrung besteht nicht in der sinnlichen Erfahrung der Erscheinungen, sondern in dem sinnlichen Wahrnehmen der Ursachen derselben“ (BN/Drossbach-1884,11). Hier stellt Nietzsche am Rand die Frage: „Woher?“ Eine kritische Notiz am Ende der Seite 10 dürfte sich ebenfalls auf diesen Auftakt des dritten Kapitels beziehen: „Unsinn! Woher weiß er nun das alles von ‚wahren Ursachen‘?“ (BN/Drossbach-1884,10). Schon hier zeigt sich sehr deutlich, dass Nietzsche gegenüber der spekulativen Naturphilosophie Drossbachs deutlich größere Vorbehalte hat als gegenüber der Erkenntniskritik, die er im wesentlichen zu teilen scheint.

23. Drossbach bezieht seine Überlegung nochmals auf Kant, der zwar die Erfahrung als Quelle der Erkenntnis anerkenne, aber die Objekte der Anschauung auf das „Vermögen der Sinnlichkeit“, die Begriffe auf das „denkende Vermögen“ und deren kausale Verknüpfung auf den Verstand zurückführe. Drossbachs Darstellung dieser Position wird von Nietzsche durch verschiedene Unterstreichungen und die identifizierende Randnotiz „Kant“ hervorgehoben: „Hiernach legen wir selbst die Causalität, sowie überhaupt die Regelmäßigkeit und Ordnung in die Erscheinungen, welche wir Natur nennen, hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, wenn wir sie nicht vorher hineingelegt hätten“ (BN/Drossbach-1884,11). Zum Verständnis von Nietzsches Kant-Bild ist diese Passage hilfreich, obschon auch hier die Überlegung selbst aus früheren Texten Nietzsches bekannt ist (vgl. etwa NF-1881,15[9], NF-1884,26[407]). Bereits 1873 schreibt Nietzsche „Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der „Wahrheit“ innerhalb des Vernunft-Bezirkes“ (WL-1). Diesen Gedanken inklusive der Busch-Metaphorik greift Nietzsche wieder auf, wenn er die mutmaßliche ‚Entdeckung‘ allerlei menschlicher Vermögen durch Kant und seine Nachfolger kritisiert (JGB-11).

24. Auf den folgenden Seiten skizziert Drossbach seine Alternative zu Kant und Hume, wonach wir Vorstellungen bilden und sie nach Regeln verknüpfen, weil wir „in dem sinnlich wahrgenommenen Wirken der Wesen, Ordnung, Regelmäßigkeit und Causalität finden“ (BN/Drossbach-1884,11). Gegenüber diesen ‚Wesen‘ und dem damit verbundenen Realismus hat Nietzsche offenbar Reserven. Die These, „wir empfinden nicht Druck oder Schwere“, sondern „was afficiert ist thätige Kraft, diese ist das wahre Erfahrungsobject“ versieht Nietzsche ebenso wie dann auf der folgenden Seite die These von der Individualität der Wesen am Rand mit der Frage: „Woher?“ (BN/Drossbach-1884,12,13). Für Drossbach ist Erfahrung letztlich die unvermittelte Wahrnehmung der Wesen, der „wirklichen Dinge von Angesicht zu Angesicht“ (BN/Drossbach-1884,13). Diese Unmittelbarkeit sei möglich, da dem menschlichen Wesen die Möglichkeit zur begriffsbildendenden Wechselwirkung mit den wirklichen Wesen „ursprünglich eingeboren“ sei. Erneut fragt Nietzsche: „Woher?“ (BN/Drossbach-1884,14) und nimmt damit nochmals Bezug auf die vorher formulierte Frage: Woher weiß Drossbach das nun alles?

25. Am Ende von Seite 14 beginnt Drossbach einen Zusatz zu Carl Schaarschmidt, dem er dann auf Seite 15 ein längeres Zitat widmet. Nikolaos Loukidelis hat darauf hingewiesen, dass dieses Zitat als Quelle für Nietzsches kritischen Gebrauch der Formel „Ich als Ursache“ in JGB-16sowie im Nachlass von 1885 (NF-1885,35[35],NF-1885,38[1]) gelten kann[15]. Schaarschmidt zufolge weiß sich das Ich als res cogitans et movens, es erlebt und erfährt sich als relative Hemmung, es „widersteht(BN/Drossbach-1884,15). Diese hemmende Kraft sei, so Drossbach, das reale Objekt meiner Erfahrung. So sei etwa dasjenige, was beim Sitzen Widerstand leistet, nicht der Sessel, sondern die Erfahrung einer wirkenden Kraft, von der wir auf einen Sessel nur schließen (BN/Drossbach-1884,16). Aufgabe der Wissenschaft sei daher nicht die Erforschung von Erscheinungen wie etwa Sesseln, sondern dieser „realen Mächte“, die in „unendlich vielen und mannichfaltigen Formen“ auf uns wirken und sich so zu erkennen geben (BN/Drossbach-1884,16).

2.5. Viertes Capitel. Die Wechselwirkung oder das Verhältnis der Ursachen zu einander. (S. 17-29)

26. Interessanterweise finden sich nach den Anstreichungen im Zitat von Schaarschmidt auf Seite 15 bis zur Seite 22 keine weiteren Lesespuren Nietzsches, so dass sowohl der zusammenfassende Abschluss des dritten wie auch die programmatischen ersten Seiten des vierten Kapitels nicht annotiert werden. Man kann darin ein Indiz dafür sehen, dass Nietzsches Lektüre selektiv an seinen eigenen Fragen und weniger an einem verstehenden Nachvollzug der Gedanken Drossbachs interessiert ist.

27. In diesem Kapitel entfaltet Drossbach seine spekulativ-ontologische Konzeption der Ur-Sachen und deren Wechselwirkungen. Nur „die Kraftwesenheiten sowie die Vorgänge unter ihnen“ seien „das Wirkliche“ (BN/Drossbach-1884,17). Folglich könne man nur auf einen Widerstand Wirkungen ausüben, Erscheinungen hingegen seien Nichts, übten keinen Widerstand und könnten schon deshalb nicht kausal sein. Diese Position werde auch von Leibniz vertreten, der bereits Substanz als Kraft definiert habe: „Mit vollem Recht sagt Leibnitz: die selbsteigene Kraft ist das wahrhaft Substanzielle“ (BN/Drossbach-1884,19). Substanz sei daher letztlich identisch mit Energie, Kraft und Selbsttätigkeit. „Die thätige Kraft, sagt Leibnitz, hat einen Trieb in sich“ und bedürfe daher keines weiteren Antriebs, um zur Handlung zu kommen (BN/Drossbach-1884,19). Man darf annehmen, dass Nietzsche diese Deutung von Leibniz zur Kenntnis genommen hat, auch wenn sich keine Lesespuren finden. Immerhin wurde die Position Drossbachs wiederholt als Neu-Leibnizianisch charakterisiert. Dass auch Nietzsches Überlegungen zum Thema Kraft ihrerseits in einer Verwandtschaft zu Leibniz stehen, wurde ebenfalls schon früh mit guten Gründen beobachtet[16]. Das Geschehen in der Welt definiert Drossbach als „Wechselwirkungsprocess der Wesen“ (BN/Drossbach-1884,19). Wo eine Kugel auf eine andere treffe oder ein schwimmender Baumstamm einen Brückenpfeiler zerstöre, sei nicht die Bewegung des ersten Objekts die Ursache der Bewegung des zweiten, sondern das zweite reagiere gemäß seiner eigenen Kraft auf eine ihm entsprechende Weise und trete so in Wechselwirkung. Die Art der Wechselwirkung beruhe dabei jeweils auf der Kraft zu reagieren.

1. Nachdem Nietzsche vorher in seinen Lektürespuren gewisse Reserven gegen die Annahme von Ursach-Wesen zum Ausdruck gebracht hatte, scheint er gegenüber der Idee der Wechselwirkung aufgeschlossener. „Alle Vorgänge in der Welt sind Wechselwirkungsprocesse der Ursachen, und alle sind verknüpft durch Wechselwirkung, d.i. durch das Verhältnis von Ursacheund Ursache“ (BN/Drossbach-1884,22). Am Rande dieser Passage notiert Nietzsche eine produktive Übersetzung in seine eigene Sprache: „statt ‚Wechselwirkung‘ sage ich Kampf um die Herrschaft“ (BN/Drossbach-1884,22). An die Stelle mechanisch-linearer Kausalität tritt so ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis agonaler Prozesse. Wolfert von Rahden verweist darauf, dass diese Form der Aneignung im Nachlass Spuren hinterlassen hat, wenn Nietzsche das Geschehen als Kampf charakterisiert (NF-1885,1[92][17]). Dabei ist jedoch zu beachten, dass Drossbachs Text nur vermittelt über Nietzsches Randglosse als Quelle des Notats in Betracht kommt, zumal die Chronologie nicht eindeutig zu klären ist. Eine Verbindung zu Drossbachs Thematik von Dauer und Zeit ist dabei nicht zentral und auch der bei Drossbach ubiquitär genutzte Begriff der ‚Wechselwirkung‘ taucht hier bei Nietzsche nicht auf. In einer späteren Notiz von 1887 verwendet Nietzsche allerdings diesen Begriff im Kontext einer Bekämpfung des Determinismus, die durchaus an Thesen Drossbachs erinnert, auch wenn kein direkter Bezug erkennbar ist (NF-1887,9[91]).

2. Drossbach erläutert die Wechselwirkungen anhand qualitativer Eigenschaften wie Süße, Härte oder Farbe. Demnach unterstellen wir Süße als eine Eigenschaft des Zuckers und machen diese Eigenschaft so zur Ursache unserer Empfindung: „wir setzen sie aus unserer Subjectivität hinaus und machen aus ihnen ursächliche Existenzen. – In Wahrheit aber sind wirdie Ursachen dieser Vorstellungen oder der Erscheinungen, welche nichts als hypostasirte Vorstellungen sind“ (BN/Drossbach-1884,23). Drossbach übersieht, dass dieser Einwand nur gegen die Substanzialisierung von Qualitäten Gewicht hat, während ein Lebensmittelchemiker die Süße sicher nicht als Eigenschaft von Molekülverbindungen versteht. Unter den zahlreichen Anstreichungen auf dieser Seite deutet jedoch nichts darauf, dass Nietzsche gegenüber Drossbach einen Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten machen will. Ablehnend steht er vielmehr dem unvermittelten und unbegründetem Postulat gegenüber, dass der wechselseitige Einfluss immer gleich stark sei. Getreu seiner Übersetzung von ‚Wechselwirkung‘ in ‚Kampf‘ markiert Nietzsche die These, wonach Wirkung und Gegenwirkung stets gleich seien, mit „! Unsinn“ (BN/Drossbach-1884,23). Die oft wiederholte Idee Drossbachs, wonach Erscheinungsdinge nicht wechselwirken oder reagieren, weil sie „überhaupt keine eigene Kraft haben“, versieht Nietzsche hingegen mit einem „NB“ (BN/Drossbach-1884,24).

3. Es ist eine bemerkenswerte Pointe der Überlegungen Drossbachs, dass er zwar die traditionelle Erklärung der Kausalität als Illusion verwirft, nicht aber den Gedanken der Naturnotwendigkeit. Vielmehr werde durch „die sogenannte Causalität der Erscheinungen“ gerade „nicht erklärt, warumgewisse Ereignisse jedesmal und sicher auf gewisse vorhergehende folgen, es fehlt der zureichende Grund dafür“ (BN/Drossbach-1884,24). Die Sicherheit in der Ereignisfolge resultiere aus den bestimmten „Wechselwirkungsformen ein und derselben Kraftwesenheiten“ (BN/Drossbach-1884,24). Drossbach illustriert diese Idee anhand der Beziehung von Stoß und Wärme, Glöckner, Seil, Glocke und Klang, oder auch von Speise und Sättigung, wobei Nietzsche dieses letzte Beispiel mit einem Ausrufungszeichen markiert (BN/Drossbach-1884,25). Ausrufungszeichen finden sich auch an der weiterführenden Annahme, dass die „Wesen beharrlich sich gleich bleiben“, denn sonst wäre „das Weltgetriebe […] ein unentwirrbares, chaotisches Gewühle und es wäre gänzlich unbestimmt, was im nächsten Augenblick geschehen wird“ (BN/Drossbach-1884,26). Da Drossbach die Konzeption der Welt als Chaos offenbar unwillkommen ist, konstatiert er: „Wir fühlen uns genöthigt, allem Wechsel der Vorgänge Beharrliches zu Grunde zu legen“ (BN/Drossbach-1884,26). Es sei uns aber nicht bewusst, „woher die Ueberzeugung von der Wahrheit dieser Vorstellung kommt.“ (BN/Drossbach-1884,26). Weder stamme sie aus der Erfahrung, noch aus der Natur unseres Denkens, „denn wir wissen ja nicht, obdie gegenwärtige Natur unseres Denkens ewig ist und sich stets gleich bleibt“ (BN/Drossbach-1884,26).

4. Drossbach schlägt zur Lösung dieses Problems eine holistische Deutung der Wesen vor, die stets ein Universum, ein Ganzes bilden, weshalb jedes Wesen so beharrlich wie das ganze All sei. „Das im Zusammenhang mit allen anderen befindliche, das schrankenlose Wesen ist das wahre ‚Atom‘“ schreibt Drossbach und Nietzsche ergänzt „!“ (BN/Drossbach-1884,27). Da die menschlichen Individuen selbst als Teil des Ganzen „in unauflöslicher Wechselwirkung“ konstitutiv für „das wirkliche Weltall“ seien, sei der Gedanke an ein Absolutes oder einen Schöpfergott überflüssig (BN/Drossbach-1884,27). Der Grund unserer Überzeugung von der „Unveränderlichkeit des Universums“ liege vielmehr „in dem beharrlichen Sichgleichbleiben der wirksamen Kräfte und der erkennenden Vermögen der Wesen“ (BN/Drossbach-1884,27). An dieser Stelle notiert Nietzsche am Rand: „psychologisch unsinnig“ (BN/Drossbach-1884,27).

5. Für Drossbach ergibt sich, dass „keine ewigen und unveränderlichen Naturgesetze anzunehmen sind, welche das Geschehen beherrschen und welchen die Dinge zu gehorchen hätten“ (BN/Drossbach-1884,27). John Stuart Mills Bestimmung der Naturgesetze beschreibe nur die sichere Regelmäßigkeit in der Folge der Ereignisse, aber erkläre sie nicht – was Nietzsche mit einem „ja“ am Rand quittiert (BN/Drossbach-1884,28[18]). Die Dinge gehorchen nicht Gesetzen, sondern „die ewig unveränderlichen Wesen“ seien der Grund allen Geschehens und der Regelmäßigkeit (BN/Drossbach-1884,28). Diese Kritik der klassischen Konzeption von Naturgesetzen erinnert an Nietzsches These, man könne den „‚nothwendigen‘ und ‚berechenbaren‘ Verlauf“ des Geschehens in der Welt auch ohne die „naiv-humanitäre Zurechtmachung“ einer allgemeinen Gleichheit der Natur vor dem Gesetz behaupten (JGB-22). Da zudem die Phrase vom ‚Willen zur Macht‘ sowohl in den Lesespuren zu Drossbach wie auch in JGB 22 als Alternative zu den Naturgesetzen vorkommt, erhält diese Parallele besonderes Gewicht. Allerdings hat Nietzsche schon viel früher den anthropomorphen Charakter bemängelt, wenn wir die „Nothwendigkeit in der Natur“ mit dem politischen Konzept der „Gesetzmäßigkeit“ belegen (VM-9; vgl. WL-1).

6. In einem Zusatz erläutert Drossbach weiter, dass auch das menschliche Denken als Bildung, Veränderung und Verknüpfung von Vorstellungen Teil der allgemeinen Wechselwirkung sei. „Das Denken ist ein Geschehen in unserm Kopfe wie die Naturbegebenheiten ein Geschehen ausser demselben“ (BN/Drossbach-1884,28). Somit gebe es auch keinen Dualismus von Geist und Natur. Die Notwendigkeit in unserem Denken und „dieses Nichtanders-Können“ habe vielmehr genau wie das Geschehen außerhalb unseres Nervensystems „seinen Grund nicht in einem Nothwendigkeitsgesetz, dem wir unterworfen wären, oder in einer ursprünglichen Beschaffenheit unseres Geistes, sondern in der Unmöglichkeit, die Wesen in eine beliebige Form der Wechselwirkung zu versetzen“ (BN/Drossbach-1884,29). An dieser Stelle finden sich erstmals auch Lesespuren mit blauem Bleistift, die vielleicht von einer zweiten Lektüre Nietzsches stammen.

2.6. Fünftes Capitel. Die Nothwendigkeit des Geschehens in der Natur und die menschlichen Handlungen. (S. 30-44)

7. Im Folgenden wiederholt und vertieft Drossbach seine Überlegung, dass es sich bei der Notwendigkeit in der Folge der Ereignisse um eine menschliche Vorstellung handelt. Nietzsche versieht die Ausführungen mit diversen Lesespuren. Dass wir es sind, die den Gedanken der Notwendigkeit zwischen zwei Erscheinungen legen, quittiert er mit „gut“. Auch der Explikation stimmt er mit einem „ja“ zu: „Der Stein fällt, wenn gewisse Verhältnisse eintreten; aber er ist nicht genöthigt zu fallen, sondern wir sind genöthigt, den Stein als fallend zu denken“ (BN/Drossbach-1884,30). Hierbei versteht Drossbach aber nicht etwa die Fallbewegung des Steines als bloße Projektion des Denkens, sondern weist nur die Idee eines externen Zwanges durch allgemeine Naturgesetze zurück: „Die Kräfte sind nicht von aussen gezwungen, auf einander zu wirken, sondern sie wirken, weil diess ihr Wesen, ihre Natur ist, sie sind nicht durch Zwang das, was sie sind, denn sie sind das den Zwang Ausübende“ (BN/Drossbach-1884,30). An Stelle eines naturgesetzlichen Zwanges spricht Drossbach daher lieber von „innerem Antrieb“ (BN/Drossbach-1884,30).

8. Auch die Beschränktheit der menschlichen Handlungen sei daher nicht durch „ein Unterworfensein unter das Gesetz der Nothwendigkeit“ zu erklären, sondern zum Beispiel dadurch, dass „die widerstrebenden Kräfte der Mauer stärker sind, als die meinigen“ (BN/Drossbach-1884,31). Es sei daher nicht nötigender Zwang, sondern Möglichkeit oder Unmöglichkeit, „der wir unterworfen sind. Es kann dem Unmöglichen gegenüber von einem Müssen und Nicht-können oder von einer Nothwendigkeit, der wir unterworfen wären, garnicht gesprochen werden“ (BN/Drossbach-1884,32). Daher könnten wir zwar durchaus verändernd in die Welt eingreifen, aber nur im Rahmen unserer Möglichkeiten und in der Auseinandersetzung mit den Widerständen des und der anderen. Hingegen in der „Isolirung (wenn sie möglich wäre) könnten wir gar nichts leisten“ (BN/Drossbach-1884,33). Daher kommt Drossbach zu dem Ergebnis: „Alles Geschehen ist das Werk der Wesen, welche ihrer Natur gemäss handeln. Die Wesen sind souverän, autonom, sie vermögen alles Mögliche und das Unmögliche kann nicht verlangt werden“ (BN/Drossbach-1884,33). Naturgesetzliche Notwendigkeit sei genau wie Erscheinungs-Kausalität „ein Gebilde unserer Imagination“ (BN/Drossbach-1884,34). In den Wechselwirkungen der Kräfte herrsche nicht Zwang oder Gesetz, sondern Möglichkeit und Unmöglichkeit.

9. Auf Basis der Lesespuren ist nicht zu sagen, wie Nietzsche zu dieser spezifischen Form des naturgemäßen Determinismus steht, aber die Idee, dass Wesen unweigerlich ihrer Natur gemäß handeln, findet sich unter anderem in GM-I-13. Im nächsten Schritt bereitet Drossbach die Freiheit des Menschen außerhalb dieser Determination der Wechselwirkungen vor. Seine Bemerkung, „die sogenannte nothwendige Aufeinanderfolge erleidet Ausnahmen“, versieht Nietzsche mit drei Fragezeichen (BN/Drossbach-1884,34). Im Unterschied zu den anorganischen und den niedrigeren organischen Verbindungen folgten die Handlungen der Menschen „nicht in einer solchen sicheren unabänderlichen Ordnung aufeinander.“ Nietzsche quittiert diese Formulierung unmissverständlich mit „Hornvieh“ (BN/Drossbach-1884,34).

10. Drossbach zufolge werde durch die Unterscheidung zwischen „dem Reiche des Materiellen“ und „dem des Immateriellen und Geistigen“, in dem allein Freiheit herrschen solle, letztlich unweigerlich „der Mensch zur Marionette herabgesetzt“ (BN/Drossbach-1884,34). Während er diesen Gedanken mit einem Ausrufungszeichen hervorhebt, ist sehr interessant, wie Nietzsche die anschließende Argumentation Drossbachs annotiert: „Da nun aber nach unseren Auseinandersetzungen das eine dieser beiden Reiche – die Natur mit ihren Naturgesetzen – die materielle Welt mit ihrer Causalität – nichts als unsere Vorstellung (und zwar eine falsche, nicht zu rechtfertigende) ist, so fällt sie als eine dem Immateriellen oder Geistigen gegenüberstehende Wirklichkeit ganz weg“ – hier schreibt Nietzsche ein „gut“ an den Rand. Den direkt anschließenden Gedanken, „und wir haben es nur mit einem Reiche – mit der Welt der Wesen und ihrem Wechselwirken – zu thun“, kommentiert er hingegen mit „nicht so!“ (BN/Drossbach-1884,35). Obwohl Nietzsche somit Drossbachs Kritik des klassischen Dualismus wohlwollend aufnimmt, hat er gegenüber seiner spekulativen Lösung offenbar Reserven. Selten zeigt sich die Verbindung von tendenzieller Zustimmung („gut“) und spezifischer Abgrenzung („nicht so“) so klar wie in dieser Passage.

11. Nietzsches abwägend distanzierte Rezeptionshaltung erweist sich auch darin, dass er den weiteren Ausführungen zur Sonderstellung der komplexeren Organismen gleichwohl Beachtung schenkt. Drossbach begründet seine Thesen, dass wir in derselben Welt zugleich einerseits gleichförmige und berechenbare Ereignisse und andererseits „die freien Handlungen des Menschen vor uns“ haben (BN/Drossbach-1884,35), durch ein spezifisches Empfindungsvermögen der Menschen. Da eine Wirkung nur erfolgt, wenn ein Wesen eine Einwirkung auch empfindet, sei es bewusst oder unbewusst, verortet Drossbach die menschliche Freiheit in der Lücke zwischen der Empfindung der Aktion und der Reaktion: „Die Reaction folgt nicht unmittelbar auf die Action, durch die Action ist der innere Zustand des Wesens verändert worden und erst in Folge dieses veränderten Zustands findet die Reaction statt“ (BN/Drossbach-1884,35). Drossbach betont zugleich, das menschliche Bewusstsein löse ihn nicht aus dem Naturzusammenhang. Dass es falsch sei, ‚anorganisch‘ mit ‚unbewusst‘ gleichzusetzen, und dass statt eines Dualismus vielmehr „eine continuierliche Stufenreihe ihrer Entwicklungsformen von den einfachsten anorganischen Verbindungen zu den complicirteren“ anzunehmen sei, wird von Nietzsche mit einigen Randstrichen und Ausrufungszeichen markiert (BN/Drossbach-1884,36). Die Varianz in den Möglichkeiten des Menschen ergebe sich hierbei daraus, dass er aufgrund seiner Erinnerung in der Lage ist, auf eine Einwirkung hin unterschiedliche Vorstellungen zu bilden und zwischen ihnen zu „wählen(BN/Drossbach-1884,37). Möglicherweise kommen diese Thesen als eine der Anregungen für Nietzsches Konzeption vom „starken und schwachen Willen“ an Stelle des „freien“ oder „unfreien Willens“ in Betracht (JGB-21) und gehören somit auch in das Feld seiner wechselnden Überlegungen zu Agieren und Reagieren[19].

12. Allerdings zeigt sich gleich, worin Nietzsche und Drossbach sich hinsichtlich der Freiheitsthematik deutlich unterscheiden. Folgt man Drossbach, so könne der Mensch aufgrund seiner bewussten Erinnerung „auch nach anderen Vorstellungen als nach der durch die äussere Einwirkung hervorgerufenen reagiren oder handeln.“ Nietzsche schreibt sich an den Rand: „Damit ist unsere ‚Viel<heit> angedeutet“ (BN/Drossbach-1884,37). Anders als bei Drossbach hängt für Nietzsche die Möglichkeit des Menschen, seine Handlungen zu variieren, nicht von der spezifisch menschlichen „Beschaffenheit des ‚Bewusstseins‘“ und der Art unserer Vorstellungen ab: „Nein! von der Viel-fachheit des Menschen“ notiert er energisch (BN/Drossbach-1884,38). ImHintergrund dieser alternativen These steht vermutlich die schon früher entwickelte Konzeption des Individuums als Vielheit. „Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat“ notierte Nietzsche bereits 1881 (NF-1881,12[35]), bevor er diesen Gedanken beispielsweise in FW-99und dann in Za-I-Veraechterpubliziert. Dass sich das Subjekt am „Leitfaden des Leibes“ als „eine ungeheure Vielfachheit“ (NF-1885,2[91]) erweist, findet sich auch nach der Lektüre Drossbachs etwa in JGB-12[20].

13. Ähnliche Vorbehalte hat Nietzsche auch gegenüber Drossbachs Deutung der „unwiderlegten, und unwiderlegbaren“ Entdeckung von Leibniz, dass alle Wesen vorstellend seien, indem er als Einschub „und unbeweis=baren“ ergänzt (BN/Drossbach-1884,38).Die Konzeption der Kraftwesen kann weder bewiesen noch widerlegt werden, ihre Geltung ist letztlich nicht zu klären. Nietzsche dokumentiert so erneut, dass er trotz einer offenbar weitreichenden Faszination für die Ausführungen Drossbachs letztlich gegenüber der Selbstsicherheit seiner Metaphysik kritische Distanz wahrt. Im Verhältnis zu der spekulativen Ambition Drossbachs markiert diese erkenntniskritische Reserve eine fundamentale Differenz.

14. Vorbehalte zeigt Nietzsche nicht nur hinsichtlich der Unwiderlegbarkeit, sondern insbesondere auch gegenüber der dabei zugrunde liegenden moralischen Ambition, die sich bei Drossbach vor allem in der Idee sittlicher Freiheit zeigt. Der Mensch könne als vollkommenere Wechselwirkungsform unmittelbare Reaktionen aussetzen, zwischen verschiedenen Reaktionsweisen wählen, und sich so als „sittlich handelndes Wesen“ etablieren. Man solle daher, anders als die Materialisten, die Notwendigkeit und nicht die Selbstbestimmung eliminieren. Mit Blick auf diese Begründung des sittlichen Lebens und der sittlichen Vervollkommnung notiert Nietzsche unzweideutig: „!!! Oh Loch der Löcher“ (BN/Drossbach-1884,38).

15. In einem von Nietzsche anfangs kaum annotierten Zusatz konstatiert Drossbach, es dämmere inzwischen auch einigen Naturforschern, dass Empfinden eine ebenso ursprüngliche Tätigkeit sei wie Bewegen. Drossbach verweist dazu auf Autoren, die auch andernorts in Nietzsches Lektüren eine Rolle spielen: Ernst Haeckel, Carl W. Naegeli und Carl du Prel, ebenso wie Tschermak (Johann N. Czermak?), Karl F. Zöllner, Emil Du Bois-Reymond und Friedrich A. Lange (BN/Drossbach-1884,39-42). Nietzsche versieht ein längeres Zitat Nägelis mit einigen Anstreichungen (BN/Drossbach-1884,41). Gegenüber diesen Naturwissenschaftlern beansprucht Drossbach, noch einen Schritt über den im Grunde griechischen Hylozoismus hinaus zu gehen. Träger des allgemeinen Empfindungsvermögens seien nicht Stoffe, denn diese hätten keine reale Existenz, was Nietzsche mit einem „ja“ quittiert (BN/Drossbach-1884,43). Drossbachs alternative These, das allein Existierende seien vielmehr sich selbst nach ihren je eigenen Vorstellungen bestimmende „Kraftsubstanzen“, ist ihm indes noch immer ein Fragezeichen wert (BN/Drossbach-1884,43). Vor allem Drossbachs den Zusatz abschließende Frage, ob es nicht vielleicht sogar „ein höchstes, klarstes Bewusstsein und Selbstbewusstsein“ als „Spitze“ und „Centralpunkt des ganzen Weltalls geben“ könne, scheint Nietzsche fraglich (BN/Drossbach-1884,44).

2.7. Sechstes Capitel. Der Grund der Wechselwirkung. (S. 44-54)

16. Die Kraftsubstanzen treten, wie Drossbach im sechsten Kapitel ausführt, in Wechselwirkung und bilden Wechselwirkungsverhältnisse, denn die „Kraft strebt nach Entfaltung“ (BN/Drossbach-1884,44). Drossbach definiert die noch nicht entfaltete Kraft als Streben und die entfaltete als Tat. Das Streben der Kraft verbindet er dabei mit Begriffen der Intentionalität, indem er an die Stelle der blinden mechanischen Kausalität die „Wechselwirkungen der frei aus sich selbst nach Entfaltung strebenden Ursachen“ setzt (BN/Drossbach-1884,45). Nietzsche markiert diese Stelle mit einem Fragezeichen. Und obwohl er dann Drossbachs These, „man hat erst dann den rechten Begriff von der Kraft, wenn man sie als das Streben nach Entfaltung erkennt“ mit „Wille zur Macht, sage ich“ zu übersetzen scheint, setzen sich die Fragezeichen fort (BN/Drossbach-1884,45). Besonders gegenüber der Idee eines höchsten Ziels und gegenüber den mutmaßlichen Eigenschaften der Autonomie und Freiheit der ‚Wesen‘ und ‚Ur-Sachen‘ hat Nietzsche offenbar Vorbehalte. Drossbachs These, dass „das strebende Wesen selbst den alleinigen Grund“ seiner Entwicklung ausmacht, ist nicht konsistent mit seiner wenige Zeilen später formulierten Überlegung, dass die Wesen ihre Kraft entwickeln, „indem sie auf andere einwirken und von anderen Einwirkungen empfangen.“ Ein Widerspruch, auf den Nietzsche durch einen verbindenden Strich und ein „also?“ am Rand deutlich hinweist (BN/Drossbach-1884,45). Die Idee, dass die Kraftwesen die „Herstellung stets vollkommenerer Verbindungen“ anstreben, überzeugt ihn offenbar ebenfalls nicht: „oh! Esel“ (BN/Drossbach-1884,45).

17. Dennoch setzt sich Nietzsche weiter mit dem Text auseinander und versieht bereits auf der folgenden Seite die weiteren Erörterungen zum Thema der Perfektionierung mit Ausrufungszeichen und einem „NB“ (BN/Drossbach-1884,46). Die entscheidende Differenz zu den diesbezüglichen Überlegungen Drossbachs betrifft wohl vor allem die traditionellen moralischen Implikationen seines Konzepts von Vervollkommnung. Das wird besonders deutlich, wenn Drossbach „das sittliche, in der guten Gesinnung gegründete, Leben“ selbst im unbewussten Zustand der anorganischen Verbindungen als höchsten Zweck bestimmt. „Dieser ethische Zweck ist Weltzweck“, schreibt Drossbach, und Nietzsche ergänzt zwei mal: „Oh! Esel / Oh! Esel“ (BN/Drossbach-1884,47).

18. Der weitere Umgang Nietzsches mit dem Gedanken an einen Weltzweck ist gleichwohl interessant. Jedenfalls versieht Nietzsche die Präzisierungen Drossbachs, wonach die Welt keine Maschine und kein Räderwerk sei, „sondern eine Gesellschaft strebender in steter Entwicklung begriffener Wesen“ ebenso mit einem Ausrufungszeichen, wie die Bemerkung, der „sogenannte Kampf ums Dasein“ sei vielmehr „ein Ringen der Wesen um die zur Entfaltung ihrer Kräfte nöthigen Verbindungsformen“ (BN/Drossbach-1884,47[21]). Das Weltbild des Mechanismus ebenso wie die darwinistische Konzeption einer quasi-mechanischen Anpassung der Arten sei nämlich nicht geeignet, „Zweckmäßigkeit“ oder auch nur das „Entstehen einer Vorstellung derselben in uns zu begreifen“ (BN/Drossbach-1884,48). Diese Vorstellung führe auf der Basis des traditionellen Denkens jedoch entweder in das Postulat einer zwecksetzenden Instanz außerhalb der Natur, also in die Religion, oder – um ein Wort Nietzsches zu gebrauchen – in den Nihilismus: „fragt man, wozu das Weltgetriebe, wozu das Forschen der Menschen, wozu Wissenschaft und Moral, so muss geantwortet werden: zu Nichts – oder es muss wenigstens bekannt werden, dass man es nicht weiss, dass man es mit den angenommenen Voraussetzungen nicht zu erklären vermag“ (BN/Drossbach-1884,48). Nietzsche markiert diese und ähnliche Stellen auf der folgenden Seite mit Randstrichen und Ausrufungszeichen. „Der Zweck ist der Tod der Naturwissenschaft, sagt Kant“ (BN/Drossbach-1884,49[22]). Der bekannten Feststellung, dass es innerhalb der mechanistischen Naturauffassung keine Antwort auf die Frage nach dem Zweck geben könne, stimmt Nietzsche wohl zu.

19. Nietzsche zeigt sich zudem offen für die Überlegung Drossbachs, dass sich aus seiner Kritik der Kausalität ebenso ergebe, dass „auch alle aus ihr gefolgerte Zwecklosigkeit des Geschehens ebenso illusorisch und daher hinfällig sein“ müsse (BN/Drossbach-1884,48). Daher sei es nicht nur unwissenschaftlich, den Erscheinungen Zwecke beizulegen, sondern „mit demselben Rechte muss man auch sagen, dass die Causalität der Erscheinungen der Tod der Naturwissenschaft, wie überhaupt aller Wissenschaft ist“ – was Nietzsche wiederum mit einem „ja“ quittiert (BN/Drossbach-1884,49). Zugleich ziehe die falsche Konzeption von mechanischer Kausalität das fragwürdige Postulat eines planenden und zwecksetzenden Gottes nach sich, der dann als bloße Spekulation außerhalb der Natur stehe (BN/Drossbach-1884,49).

20. Den Ausweg aus dieser falschen Alternative von Zwecklosigkeit oder Theismus sieht Drossbach in seiner Konzeption der Kraftwesenheiten: „Alle Wesen streben mit Absicht nach einem Ziel, nach Vervollkommnung ihrer gegenseitigen Verhältnisse“ (BN/Drossbach-1884,50). Jedes Wesen strebe auf seiner jeweiligen Stufe mehr oder minder bewusst nach seinen Absichten. Trotz der Ablehnung, die Nietzsche gegenüber der Idee sittlicher Vervollkommnung ausgedrückt hat, markiert er diesen Satz mit mehreren Ausrufungszeichen; ebenso wie den anschließenden Gedanken, das höchste Wesen „mit der vollkommensten Machtentfaltung“ sei nicht als Demiurg oder als Obrigkeit zu denken, sondern „alsErzieher – als eine zum Ideal der Vollkommenheit emporziehende Macht“ (BN/Drossbach-1884,50). Ausgehend von dieser Position sei der falsche Dualismus von zweckloser Natur oder zwecksetzender Übernatur zu vermeiden (BN/Drossbach-1884,52). Die abschließende Frage nach der Voraussetzungslosigkeit der wirklichen „Welt der Wesen“ ist Nietzsche ein „NB“ wert; von Drossbach wird sie verneint, da man sich sonst erneut in den Dualismus ergeben müsse (BN/Drossbach-1884,52).

21. Einem Zusatz zum Problem des Determinismus widmet Nietzsche keine sichtbaren Lesespuren. Drossbach argumentiert darin dahingehend, dass zwar jedes einzelne Streben von äußeren Verhältnissen abhängig sei, diese Verhältnisse selbst seien aber nichts anderes als die jeweiligen Wechselwirkungsformen.

2.8. Nachwort. (S. 54-57)

22. In einem Nachwort konstatiert Drossbach, dass die Welt klar vor uns liege, während wir uns verworrene und irrige Vorstellungen davon machen. Die Grundirrtümer der historischen Entwicklung des Abendlandes von Platon und Aristoteles bis zu Bacon und Descartes könnten jedoch erst erkannt und überwunden werden, wenn ein neuer Standpunkt gefunden sei, so wie Kopernikus einen neuen Standpunkt in der Astronomie gefunden habe (BN/Drossbach-1884,55). Der Einfluss der platonisch-aristotelischen „Dogmenbildung“ zeige sich „vornehmlich in dem Satze, dass das Allgemeine das wahrhaft Seiende sei“ (BN/Drossbach-1884,55). Sowohl diesen, wie auch den späteren Satz, dass in der neueren Philosophie das wahrhaft Seiende, die wirklichen Dinge „unwahrnehmbar, unerkennbar seien“, sind mit blauen Randstrichen markiert, die von einer späteren Lektüre stammen könnten (BN/Drossbach-1884,55). Aber die falsche Alternative von Idealismus und Empirismus führe entweder zu Unvernunft oder Verzweiflung (BN/Drossbach-1884,56). Obwohl Drossbach seine Überlegungen im letzten Absatz noch einmal in drei präzisen Thesen zusammenfasst (Wahrnehmbarkeit der Wesen, Wechselwirkung statt Kausalität, und Zweckstreben der Wesen statt Naturnotwendigkeit), finden sich hier keine Lesespuren mehr. Mag sein, dass Nietzsche diese Thesen inzwischen sattsam bekannt sind, mag sein, dass ihn das für Drossbach selbst zentrale Ergebnis seiner Studie nicht interessiert.

2.9. Anhang. Eine Untersuchung über die Wahrnehmbarkeit der Erscheinung und die Unwahrnehmbarkeit der Wese. (S. 59-103)

23. Im Anhang des Werkes findet sich eine bereits 1875 in den Philosophischen Monatsheften gedruckte vornehmlich erkenntniskritische Abhandlung, in der viele Überlegungen enthalten sind, die auch in dem späteren Text entwickelt werden. Nachdem sich auf den ersten Seiten des Anhangs keine Markierungen finden, setzen sich Nietzsches Lesespuren ab Seite 69 in unverminderter Intensität fort. Zum Auftakt des Anhangs betont Drossbach, schon Berkeley habe unwiderlegbar gezeigt, dass alle Eigenschaften der Körper Empfindungen seien (BN/Drossbach-1884,59). Nach Abzug aller sinnlichen Qualitäten wie Härte oder Farbe bleibe nichts außer Vorstellungen zurück, die ihrerseits nicht wahrnehmbar seien. Nicht nur Kant, sondern auch die Naturwissenschaften hätten diese Einsicht bestätigt (BN/Drossbach-1884,60). Die Erscheinungswelt sei subjektive Vorstellung, allerdings entstünden die Vorstellungen nicht von ungefähr, sondern aufgrund der Wirkung äußerer Kräfte. Wahrnehmbar sei demnach dasjenige, was Lotze den Einfluss des Seienden nenne, nämlich „die widerstrebende Kraft“ (BN/Drossbach-1884,64). Newton habe als erster die nur scheinbar unsichtbar wirkende Kraft erkannt. Im Unterschied zum Materialismus Feuerbachs will Drossbach daher seine eigene Position so verstanden wissen, dass die sinnlichen Kräfte das allein Wirkliche seien (BN/Drossbach-1884,65). Diese Wirkungen werden von unserem Nervensystem unter anderem mit Hilfe der Ganglienzellen zu Vorstellungen verarbeitet (BN/Drossbach-1884,67). Eine Vorstellung ist demnach „der durch Reflexion zum Bewusstsein gebrachte sinnliche Eindruck“ (BN/Drossbach-1884,68).

24. Vor dem Hintergrund dieser physiologisch unterlegten Überlegungen betont Drossbach, dass wir im geraden Gegenteil zur landläufigen Annahme nicht etwa unsere eignen Zustände und Empfindungen unmittelbar kennen, sondern umgekehrt erfahren wir direkt „stets nur das Wirken Anderer und kommen erst durch Vermittlung dieser zur Kenntniss unserer eigenen Vorstellungen und Zustände.“ (BN/Drossbach-1884,69). An dieser Stelle setzen Nietzsches Lesespuren unvermittelt wieder ein. Der annotierte Gedanke scheint mit Nietzsches eigener Psychologie zu korrelieren, wonach das Bewusstsein ein nachgeordnetes Phänomen ist (FW-11, FW-354) und wir Erkennenden uns selbst unbekannt sind (GM-Vorrede-1).

25. Drossbach grenzt sich damit von der realistischen wie von der idealistischen Philosophie gleichermaßen ab, da beide auf der falschen Annahme beruhen, dass die „Erscheinungen das Wahrnehmbare seien“ (BN/Drossbach-1884,69). Der Realist scheitere daran, dass er die zurecht von ihm postulierte Existenz einer subjektunabhängigen Außenwelt „nicht in der sinnlichen Wahrnehmung nachweisen kann“ (BN/Drossbach-1884,70). Vielmehr sei, so Drossbach, die Erscheinung tatsächlich „von unserer individuellen Organisation abhängig“, nicht aber das wirkliche Objekt unserer Wahrnehmung, das Wesen (BN/Drossbach-1884,70). Daher habe der Subjektivist zwar Recht, wenn er die Abhängigkeit der Erscheinungswelt behauptet (BN/Drossbach-1884,72), aber zugleich habe auch der Objektivist Recht, „dass das Objective nicht von seiner Subjectivität abhängt“ (BN/Drossbach-1884,7§). Diese unvereinbaren philosophischen Strömungen beruhen in ihrer wechselseitigen Unzulänglichkeit, so Drossbach, gemeinsam darauf, dass sie die Erscheinungen anstelle der wirklichen Kräfte ins Auge fassen.

26. Wie schon in den ersten beiden Kapiteln des Buches Ueber die wirklichen und scheinbaren Ursachen des Geschehens in der Welt entwickelt Drossbach auch in diesem früher geschriebenen Anhang eine kritische Rekonstruktion des Kausalitätsbegriffs. Die Begriffe von Ursache und Wirkung seien weder aus der Erfahrung, noch aus der Vernunft ableitbar, sondern entstünden „in Folge unmittelbarer Wahrnehmungen“ (BN/Drossbach-1884,75), die sich dadurch einstellen, das bestimmte Kräfte gleichförmig wirken. Nietzsche markiert die Stelle mit einem Ausrufungszeichen und notiert ein „ja“ neben die im Anschluss an Hume gemachten Ausführungen: „wir sehen den Blitz nichtund hören den Donner nicht, weil sie Eindrücke, Vorstellungen sind, die Ursachen aber nehmen wir wahr, weil sie das Eindruckgebende sind; sie sind die Gebenden und wir die Nehmenden, die Empfangenden“ (BN/Drossbach-1884,75). Wir stellen uns, so Drossbach, „nur vor, dass wir den Blitz sehen, den Donner hören, und dass das Folgen des Donners die Wirkung des Blitzes sei“ während wir „in Wahrheit“ nur den Reiz bestimmter Kräfte auf unsere Sinnesorgane empfinden (BN/Drossbach-1884,76). Diese Kräfte seien die wirklichen Ursachen unserer Vorstellungen sowohl von Blitz, wie auch von Donner.

27. Drossbach kritisiert hier eine bestimmte Auffassung von Kausalität, ähnlich wie zum Auftakt seines Buches (siehe BN/Drossbach-1884,3), die man mit Nietzsches eigener Kritik etwa in GM-I-13 in Verbindung gebracht hat. Dabei sind aber auch Differenzen zu beachten, die zu einem präziseren Verständnis Nietzsches beitragen können. So fehlen bei Drossbach nicht nur die kultur- und die sprachphilosophischen Kontexte, sondern auch das Postulat eines dahinterstehenden Subjekts und die damit verbundene Verdopplung des Geschehens in ein „Thun-Thun“ (GM-I-13) ist nicht Gegenstand der Kritik bei Drossbach. Wenn Nietzsche notiert, „Trennung von ‚Wirken‘ und ‚Wirkendem‘ grundfalsch“ (NF-1885,2[78]), so hält Drossbach an dieser Trennung nicht nur in chronologischer Folge, sondern auch im Sinne von Verursachung fest.

28. Drossbach bestreitet reale kausale Verursachung nicht, er will sie nur anders begründen, indem er konstatiert, „dass wir den Begriff der Ursache der Veränderung oder des Aufeinanderfolgens der Erscheinungen aus der sinnlichen Wahrnehmung der wirkenden Kräfte haben“ (BN/Drossbach-1884,76). Blitz und Donner, Eis und Kälte, Sonne und Licht sowie unsere Vorstellungen davon werden gleichermaßen „von gewissen wirkenden Kräften“ hervorgebracht (BN/Drossbach-1884,77). Daher behauptet Drossbach, „die Anschauung ist unfehlbar, der Irrthum liegt stets in unserem Urtheil, wir können nichts anderes wahrnehmen als das Wahre, das Wirkliche –“ (BN/Drossbach-1884,78), und „dass wir die Ursachen selbst wahrnehmen“ (BN/Drossbach-1884,79). Mit Blick auf diesen Substanzialismus der Kraftwesenheiten kann man Drossbach nicht nur als Inspiration, sondern auch als Gegenstand der Kritik Nietzsches lesen: „Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen ‚die Kraft bewegt, die Kraft verursacht‘ und dergleichen“ (GM-I-13).

29. Im II. Abschnitt des Anhangs erörtert Drossbach ein Problem, welches ebenfalls aus der Nietzscheforschung bekannt ist. Dem Subjektivisten schreibt Drossbach die falsche Überzeugung zu, dass „wir von unserem eigenen psychischen Innern eine unmittelbare Wahrnehmung haben“ (BN/Drossbach-1884,79), und dass darin der erste feste Punkt der Erkenntnistheorie zu sehen sei. Da Nietzsche diese Passage einerseits mit blauem Buntstift unterstreicht, andererseits mit Bleistift ein „NB“ am Rand notiert, scheint er sie zweimal beachtet zu haben. Bekanntlich kritisiert Nietzsche die mutmaßlich „unmittelbare Gewissheit“ des „ich denke“ (JGB-16, 17<JGB-17>) und mit Recht ist in diesem Zusammenhang auch an seine Drossbach-Lektüre erinnert worden[23]. Wahrnehmung sei immer nur ein Aufnehmen und Empfangen, also durch Äußeres vermittelt. Selbst das „Ich ist nicht möglich ohne das Du“, denn die inneren Zustände entstünden nur „nachdem ich von anderen Einwirkungen empfangen habe“ (BN/Drossbach-1884,80). Nietzsche scheint diese Passage fragwürdig.

30. In dieser Hinsicht ist der Mensch für Drossbach trotz seines Vorstellungsvermögens Teil der Natur. Zwar sei unbekannt, ob auch Steine bewusst wahrnehmen (BN/Drossbach-1884,82), aber jedenfalls reagiere auch der Stein auf einwirkende Kräfte. Drossbach unterscheidet dazu das bewusste bzw. reflektierte Wahrnehmen komplexer Nervensysteme von weniger ausdifferenzierten oder unorganischen Verbindungen, die „nicht wissen, dass sie wahrnehmen“ (BN/Drossbach-1884,83), was Nietzsche mit blauem Randstrich markiert. Es ist Drossbach durchaus klar, dass mit Blick auf die unorganischen Verbindungen nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes von ‚Wahrnehmung‘ gesprochen werden kann. Der Gedanke, dass auch in der unbelebten Natur empfunden und in Wechselprozessen aufeinander reagiert wird, ist jedoch für seine Naturphilosophie zentral. „Die bewegende Kraft allein“, so Drossbach, „kann nichts ausrichten, es muss eine Kraft da sein, welche sie aufnimmt und gegen sie reagiert, wenn etwas geschehen soll“ (BN/Drossbach-1884,85). Damit vernatürlicht Drossbach nicht nur den Menschen, sondern er vermenschlicht auch die Natur: „Betrachtet man den Menschen als eine Ausnahme von der Natur, dann ist weder er nochdie Natur zu erklären“ (BN/Drossbach-1884,85). Wie auch die „Descendenztheorie der Gegenwart“ zeige, gibt es in der Natur keine Sprünge, also auch nicht zwischen der belebten und der mutmaßlich empfindungslosen unbelebten Natur (BN/Drossbach-1884,86).

31. Wie gesagt geht Drossbach davon aus, die „Ursachen der Erscheinungswelt oder unserer Vorstellungen sind also wirkende und empfindende Kräfte“ (BN/Drossbach-1884,86). Diese These präzisiert er mit Blick auf Ort und Zeit dahingehend, dass die Kräfte der Wesen oftmals zugleich wirken und empfinden (BN/Drossbach-1884,91). Später wird er davon sprechen, dass die Kräfte in Wechselwirkung treten (vgl. BN/Drossbach-1884,17). Die Wesen sind also keine abgeschlossenen Monaden, sondern sie gehen Verbindungen ein, so wie sich Sauerstoff und Eisen zu einem Oxyd verbinden (BN/Drossbach-1884,92). Denke man sich die Verbindung aller Wesen zu einer Einheit, so könne man sagen, „das ganze Universum ist der unvergängliche Leib des Wesens, und das, was wir unseren Leib nennen, nur eine gewisse vorübergehende specielle Form innerhalb dieses Zusammenhangs“ (BN/Drossbach-1884,93). Nietzsche markiert diese Passage nicht, in der Drossbachs ursprüngliches Anliegen durchscheint, die Unsterblichkeit des menschlichen Wesens zu beweisen. Auch etwaige Vorbehalte gegenüber denen, die „das All einen Organismus nennen“ (FW-109), sind an dieser Stelle nicht präsent. Vielmehr konzentriert sich Nietzsches Aufmerksamkeit noch einmal auf einen anderen Aspekt:

32. Auf der Basis des empiristischen Atomismus, der die Bestandteile der Welt als sehr kleine oder raumlose „discrete Dinge“ begreift, ist die Idee einer Wirkung an Orten, „wo das wirkende Ding sich nicht befindet“ einerseits notwendig und andererseits zugleich unbegreiflich (BN/Drossbach-1884,93). Das rätselhafte Postulat einer ‚Wirkung in die Ferne‘ ist ein umstrittener Teil der Naturphilosophie, spätestens seit Newton mit der Konzeption von Gravitation eine einheitliche und effiziente Theorie der Bewegung entwickelt hat. Nietzsche waren die naturphilosophischen Debatten um die actio in distans unter anderem schon durch die Lektüre Langes bekannt, der darin ein transzendentes und letztlich unlösbares Problem sah[24]. Ein Nachklang dieser Diskussionen, der zudem in die Zeit nach der Lektüre Drossbachs fällt, findet sich in Notaten vom Sommer 1885: „– daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt führt, oder vielmehr, daß es keine unorganische Welt giebt. Die ‚Wirkung in die Ferne‘ ist nicht zu beseitigen: etwas zieht etwas anderes heran, etwas fühlt sich gezogen. Dies ist die Grundthatsache: dagegen ist die mechanistische Vorstellung von Druck und Stoß nur eine Hypothese auf Grund des Augenscheins und des Tastgefühls, mag sie uns als eine regulative Hypothese für die Welt des Augenscheins gelten!“ (NF-1885,34[247], vgl. NF-1885,36[34]).

33. Wie bei Drossbach ist in diesem Notat die actio in distans mit einer grundsätzlichen Kritik an der Unterscheidung von organischer und anorganischer Sphäre sowie des nur vordergründig plausiblen mechanistischen Weltbildes verbunden. Ähnlich wie bei Drossbach, für den alle Naturdinge „wirkende und empfindende Kräfte“ sind (BN/Drossbach-1884,87), ist auch in diesem Notat eine Alternative angesprochen, die der ganzen Natur Empfindungsvermögen zuspricht, so „– daß, damit dieser Wille zur Macht sich äußern könne, er jene Dinge wahrnehmen muß, welche er zieht, daß er fühlt, wenn sich ihm etwas nähert, das ihm assimilirbar ist“ (NF-1885,34[247]). Auf diese Weise lässt sich die Idee einer dynamischen Kontinuität aller Naturphänomene als empfindender, interpretierender und ‚wollender‘ Macht-Quanten plausibilisieren. Jedenfalls kann man sicher Drossbach zu den Kontexten zählen, innerhalb derer Nietzsche seine naturphilosophischen Überlegungen zum Themenfeld des ‚Willens zur Macht‘ anstellt. Ob damit die „konservative Lesart“ dieser Überlegungen als (experimentelle) Naturphilosophie oder (dynamische) Metaphysik Nietzsches nachhaltig gestützt werden kann[25], und welchen Status diese Notizen in seinem Denken und im Bezug auf das veröffentlichte Werk haben, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin ist bemerkenswert, dass schon die Lesespuren der Schrift Drossbachs wiederholt auf erkenntniskritische Vorbehalte Nietzsches deuten.

34. Obschon hinsichtlich der actio in distans offenbar auf Nietzsches Seite weiterhin Vorbehalte gegen Drossbachs Lösung bestehen, findet doch die Kritik des materialistischen Atomismus weiterhin Anklang. „Man hat“, schreibt Drossbach, „in neuerer Zeit angefangen, das Atom als Krafteinheit ohne stofflichen Kern zu fassen, es ist dies jedenfalls ein Fortschritt“ (BN/Drossbach-1884,94). Diese Feststellung gehört wohl zu den Kontexten von JGB 12, wo Nietzsche es – natürlich ohne Drossbach zu erwähnen – zu den Verdiensten von Boscovich rechnet, die „materialistische Atomistik“ mit ihrem „Erdenrest- und Klümpchen-Atom“ durch einen „Triumph über die Sinne“ überwunden zu haben (JGB-12[26]). Boscovich taucht seinerseits bei Drossbach nicht auf. Zudem sieht Drossbach in diesem allgemein anerkannten Fortschritt nur einen Anfang, da auch die unsinnlichen Kraft-Atome noch immer rein stofflich und damit unempfindlich gefasst sind. Dass diese Atomauffassung zudem noch immer an einer zirkulären Erklärung der Erscheinungsdinge durch Erscheinungsdinge kranke, quittiert Nietzsche mit einem „ja“ (BN/Drossbach-1884,95).

35. Abschließend wiederholt Drossbach seine zentrale Kritik an der sensualistischen und der Kantischen Tradition. Die „allgemeine und notwendige Gültigkeit der mathematischen und physikalischen Grundvorstellungen“ beruhe weder auf der Erfahrung der Erscheinungen, noch auf einem Vermögen der Vernunft, sondern auf der „Unveränderlichkeit der Wesen“ (BN/Drossbach-1884,96). Die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Ur-Sachen und ihrer Verbindungen allein erkläre die „absolute Gewissheit, die wir von unseren Grundbegriffen haben“ und mache damit die „wirkliche Wissenschaft“ möglich (BN/Drossbach-1884,97). Ebenso wie die Sonne sich nicht um die Erde dreht, „so ist unter Erfahrung gerade das Gegentheil von dem zuverstehen, was man bisher darunter verstanden hat, indem sie auf der sinnlichen Wahrnehmung der wirklichen Dingenicht der Erscheinungen beruht.“ Auch das wird von Nietzsche erneut mit einem „NB“markiert (BN/Drossbach-1884,97).

36. Auf diesen letzten Seiten von Drossbachs Text finden sich neben den sonst üblichen Lesespuren mit Bleistift auch vermehrt Annotationen mit blauen Buntstift, die vielleicht von einer zeitlich verschiedenen Lektüre zeugen. Zudem sind manche dieser Randnotizen in lateinischer und nicht in deutscher Schrift ausgeführt. Die bekannte These Drossbachs, dass „gegründete Einsicht“, ein „sicheres Fundament“ unserer Forschungen, die Erklärung von Naturnotwendigkeit und die Gewissheit unserer Vorhersagen und der Mathematik nur möglich ist, „wenn die ewigen Ursachen alles Geschehens anschaulich erkennbar sind“ versieht Nietzsche am Rand mit einem rätselhaften „Ego“ (BN/Drossbach-1884,98). Bezieht sich Nietzsche damit auf die Erläuterung Drossbachs, wonach der „Positivismus“ bzw. die „Wirklichkeitsphilosophie“ ignoriert, was „der Subjectivismus unwiderleglich“ dargetan habe, dass nämlich Erscheinungen keine wirklichen Dinge sind, sondern Vorstellungen des Subjekts (BN/Drossbach-1884,98)?

37. Drossbach versteht das „sinnliche Wahrnehmen“ als „Grundlage, von der alles Denken überhaupt und das philosophische insbesondere ausgehen muss“, er setzt also, wie Nietzsches notiert, den „Sensua<lismus>“ voraus (BN/Drossbach-1884,99). Nach der Auffassung von Drossbach ist tatsächlich die Erfahrung Grundlage alles Denkens und aller Erkenntnis, aber als unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der wirklichen Ur-Sachen und Kraft-Wesen (BN/Drossbach-1884,100). Damit stellt sich Drossbach seinem Selbstverständnis nach ausdrücklich jenseits der falschen Alternative von empiristisch-realistischer und von idealistisch-subjektivistischer Philosophie. Eine Randnotiz Nietzsches mit blauem Buntstift an dieser Stelle deutet im Unterschied zu den hier positiven Bleistift-Kommentaren eine gewisse Dissonanz an, konnte aber bisher nicht eindeutig entziffert und gedeutet werden: „nein der Sens<ualismus>“ ? (BN/Drossbach-1884,101).

38. Besonders interessant ist, wie Nietzsche die selbstreflexiven Überlegungen Drossbachs zum Abschluss seiner Studie kommentiert. Im Bewusstsein, dass seine Position im Widerspruch zu allen bisherigen philosophischen und alltäglichen Überzeugungen steht, führt Drossbach eine wissenschaftshistorische Überlegung an, wonach schon mancher langlebige Irrtum schließlich entlarvt wurde, obwohl er den Augenschein auf seiner Seite hatte. Das kommentiert Nietzsche mit einem doppelten nota bene (BN/Drossbach-1884,101). Starken Widerhall findet auch eine damit verknüpfte kulturphilosophische These Drossbachs: Die pessimistische „Meinung, dass wir das wahre Wesen nicht erkennen können, beruht auf der geringen Werthschätzung, welche die große Masse der Menschen zu allen Zeiten und auch gegenwärtig von sich hat“ (BN/Drossbach-1884,101f). Nietzsche notiert sich zusammenfassend am Rand: „die Werth-schätzung als Ursache unseres erkenntnißtheo-ret<hischen> Pessimismus“ (BN/Drossbach-1884,101). Aus Enttäuschung, dass die unmittelbare Erfüllung unserer Wünsche (im erkenntnistheoretischen wie auch im ethischen Bereich) nicht immer eintrete, sei das Zutrauen in die menschlichen Möglichkeiten gleich ganz ins Gegenteil umgeschlagen. Aus der traditionell niedrigen Meinung der Menschen von sich selbst ergebe sich die Überzeugung des eigenen Unvermögens. Nietzsche notiert am Rand dieser Diagnose „ist sehr gut!“ (BN/Drossbach-1884,102) und hebt die entsprechenden Ausführungen Drossbachs mit vielen Unterstreichungen hervor.

39. Ein solcher erkenntnistheoretischer Pessimismus sei zwar „aus der durch vieljährige Gewohnheit, durch Vererbung und Erziehung mit unserer ganzen Denkungsweise verwebten Anschauung entnommen,“ aber „ohne das vorher untersucht worden wäre, obdiese richtig ist. Er ist also dogmatisch“ (BN/Drossbach-1884,102). Diese Wendung am Ende von Drossbachs Text könnte Nietzsche nicht nur aufgrund der fundamentalen Kritik am Dogmatismus und an den ungeprüften Vorurteilen der Philosophen gefallen haben. Trotz der gerade gegen Drossbach in den Randnotizen von Nietzsche wiederholt vorgebrachten erkenntniskritischen Vorbehalte könnte er diesen Schluss als Ausdruck von Bejahung und Stärke verstanden haben[27].

3. Signifikanz der Drossbach-Lektüre für Nietzsche

40. An Nietzsches Beschäftigung mit Maximilian Drossbach zeigt sich sehr gut die mitunter verborgene Signifikanz zeitgenössischer Autoren für seine eigenen Überlegungen. Gäbe es nicht das reich annotierte Exemplar in seiner persönlichen Bibliothek, so hätte man ihn wohl kaum mit Drossbach in Verbindung gebracht. Weder der Titel der Schrift noch der Name ihres Autors findet in Nietzsches Briefen, Notaten oder Publikationen Erwähnung. Die Argumentationsführung Drossbachs changiert zwischen kühnen Vorschlägen, bedenkenswerten Thesen, berechtigten Einwänden und obskuren Spekulationen. Er war und blieb ein Außenseiter. Auf welchem Wege Nietzsche auf dieses Werk aufmerksam wurde, ist ebenso wenig bekannt wie der genaue Ort und Zeitpunkt der Anschaffung und Lektüre. In denjenigen Schriften von Friedrich Albert Lange oder Kuno Fischer zum Beispiel, die Nietzsche nachweislich kannte, sucht man vergeblich nach einer Erörterung Drossbachs. Denkbar wäre, dass Nietzsche in Band 11 der Philosophischen Monatshefte (1875) auf Drossbachs Aufsatz Eine Untersuchung über die Wahrnehmbarkeit der Erscheinungen und die Unwahrnehmbarkeit der Wesen gestoßen ist, der dort in zwei Teilen abgedruckt war (S. 403-419 und S. 433-452). Unter anderem um diesen Band hatte Nietzsche in einem Brief an Franz Overbeck vom 20./21. August 1881 gebeten (BVN-1881,139). Ob und wann Nietzche diesen Band erhalten und gelesen hat, ist nicht belegt, obschon er andere Werke aus dieser Bestellung in der zweiten Jahreshälfte 1881 las.

41. Falls Nietzsche die Philosophischen Monatshefte öfter gelesen hat – immerhin wurden darin nicht nur regelmäßig einige seiner Basler Lehrveranstaltungen unter der Rubrik „Philosophische Vorlesungen“ aufgelistet, sondern in Band 9 von 1873 (S. 94-95) erschien auch ein kurzes biographisches Portrait über ihn (siehe dazu BVN-1872,212) –, so könnte ihm im Band von 1869 die kritische Rezension von Drossbachs früherer Schrift Ueber Erkenntnis durch den Nietzsche als Schopenhauer-Schüler bekannten Julius Frauenstädt aufgefallen sein. Denkbar ist natürlich auch, dass Nietzsche einen anderen Verweis kannte oder einfach durch den Titel des Buches thematisch angezogen wurde. Rüdiger Schmidt vermutet, Peter Gast könnte ihm das Buch unaufgefordert zugeschickt haben[28]. Wenn man die Ausführungen zu den Anti-Wirklichen in JGB 10 auch mit Blick auf Drossbach lesen darf, so spricht der polemische Hinweis auf deren Versuche, „die unsterbliche Seele“ zu rehabilitieren (JGB-10), dafür, dass Nietzsche mehr über Drossbachs ursprüngliches Projekt wusste, als sich dem Buch von 1884 direkt entnehmen lässt.

42. Die Beziehung zwischen Nietzsche und Drossbach hat in der Forschung lange Zeit keine weitere Beachtung gefunden, obwohl die Beschäftigung Nietzsches mit dieses Buch im Grunde von Anfang an bekannt war. Max Oehler verweist in seinem Katalog mit drei Punkten auf die zahlreichen Lektürespuren. Rudolf Steiner, der als Autor des ersten Bibliotheksverzeichnisses 1896 um die Existenz dieser Studie in Nietzsches privater Bibliothek wusste, erwähnt Drossbach später als Vordenker der Unsterblichkeitslehre gelegentlich in seinen Schriften, indes ohne eine Verbindung zu Nietzsche herzustellen[29]. In seinem Buch Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895) bleibt Drossbach unerwähnt. Da Drossbach zudem keine größere Wirksamkeit entfalten konnte und schnell in Vergessenheit geriet, lag die Frage nach seiner Bedeutung für Nietzsche nicht nahe. Franz Krause, dem 1933 sehr an einer philosophischen Würdigung Drossbachs gelegen ist, hätte die Verbindung zu Nietzsche sicher nicht unerwähnt gelassen, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre[30].

43. Erst 1986 wird mit dem Beitrag von Rüdiger Schmidt die ausführliche Beschäftigung Nietzsches mit diesem Buch grundsätzlich gewürdigt und allgemein bekannt[31]. Der Beitrag von Schmidt schließt mit elf Parallelstellen zwischen Drossbachs Text und Notaten Nietzsches vom Sommer 1885 in den Heften N VII 1 und W I 4. Mazzino Montinari hat Schmidt freundlicherweise auf diese Verbindung hingewiesen und auch die Transkriptionen einiger Randnotizen Nietzsches dürften von Montinari stammen. In der Zwischenzeit haben Wolfert von Rahden und Nikolaos Loukidelis weitere Quellennachweise erbracht[32]. Thomas Brobjer hingegen führt die Lektüre von Drossbach nur in einer Liste weiterer Namen auf[33] und konstatiert recht allgemein eine Beschäftigung Nietzsches mit der Relation von Wahrheit und Erscheinung[34]. In einer Fußnote gibt er Drossbachs Inhaltsverzeichnis wieder und verweist ansonsten auf Schmidt, dessen Ergebnisse er auch im tabellarischen Teil seiner Studie reproduziert[35]. Als Teil einer Liste gemeinsam mit Liebmann, Teichmüller oder Spir begegnet Drossbach hin und wieder in der Forschungsliteratur, ohne weiter erörtert zu werden[36]. Im folgenden sollen abschließend einige systematische Felder der Nietzscheforschung skizziert werden, in denen ein Zusammenhang zu Drossbach schon hergestellt wurde oder die ausgehend von Nietzsches Drossbach-Lektüre produktiv verfeinert werden können.

44. Zuerst denkt man natürlich an die Verbindung zwischen dem Diktum vom Willen zur Macht und Drossbachs Konzeption von empfindungsfähigen Kraft-Wesen, die in komplexen Wechselwirkungsverhältnissen „nach Entfaltung“ streben (BN/Drossbach-1884,44). Die etwaige Nähe zwischen diesen Konzepten ist regelmäßig festgestellt worden, besonders seit Nietzsches Randnotiz „Wille zur Macht, sage ich“ (BN/Drossbach-1884,45) als Faksimile in dem Katalog Nietzsches private Bibliothek (2003) publiziert wurde[37]. Schon Rüdiger Schmidt macht nicht zuletzt diese Randnotiz als Beleg für seine zentrale These geltend, dass Drossbach als wichtige Bezugsgröße für Nietzsches literarisches Projekt des Willens zur Macht gelten kann. Dafür spreche auch die Rede vom „Geschehen“ im Untertitel der ersten Pläne für ein Buch mit dem Titel „Der Wille zur Macht“ (NF-1885,39[1]), die an den Titel von Drossbachs Studie „erinnert[38]“. Hinsichtlich des literarischen Projekts ist diese Verbindung grundsätzlich plausibel. Drossbachs Schrift könnte Nietzsche motiviert haben, seinerseits ein naturphilosophisches Buch über den Willen zur Macht zu verfassen. Dabei ist jedoch einerseits zu bedenken, dass die Phrase vom ‚Willen zur Macht‘ bei Nietzsche schon deutlich früher auftaucht (z.B. in NF-1876,23[63]) und bereits vor der Lektüre Drossbachs publiziert wird (z.B. in Za-II-Ueberwindung). Andererseits ist entscheidend, dass Nietzsche anders als Drossbach schließlich doch kein Buch zur spekulativen Naturphilosophie schreibt und publiziert.

45. Das scheint Jochen Schmidt (anders als sein Nachnamensvetter) allerdings zu übersehen, wenn er aufgrund der bekannten Randnotiz polemisiert, Nietzsche habe Drossbachs wissenschaftliches Konzept der Kraft in eine spekulative Theorie des Willens zur Macht übertragen[39]. Jochen Schmidt entgeht dabei nicht nur, dass Nietzsche nicht ohne weiteres den ‚Willen zur Macht‘ als physikalische Theorie behauptet, sondern auch, dass Drossbach seinerseits den Begriff der Kraft auf spekulativ-naturphilosophische und nicht bloß auf populärwissenschaftliche Weise gebraucht[40]. Schon die genauere Betrachtung der Lesespuren auf der in Rede stehenden Seite (BN/Drossbach-1884,45) lässt an einer naiven und direkten Übertragung von Drossbachs Spekulationen in eine Physik oder Metaphysik der Macht bei Nietzsche zweifeln. So kommt man den Kontexten von Nietzsches verstreuten Bemerkungen zum Willen zur Macht wohl nicht auf die Spur.

46. Gleichwohl gibt es eine Reihe auch naturphilosophisch interessanter Verbindungen zu Drossbachs dynamischer Ontologie (appetitus und perceptio), der Idee der Wechselwirkung und dem damit verbundenen „Kampf um Herrschaft“ (BN/Drossbach-1884,22). So macht etwa Mattia Riccardi mit Hilfe von Nietzsches Beschäftigung mit Drossbachs Konzept von Kraft die Neu-Leibnizianischen Hintergründe der Überlegungen zum Willen zur Macht deutlich. Auf diese Weise plausibilisiert er die „konservative Lesart“, wie sie etwa von Wolfgang Müller-Lauter und Günter Abel vertreten wurde, gegen die radikale Kritik von Maudemarie Clark und Brian Leiter[41]. Daneben ist allerdings auch zu beachten, dass Nietzsche sich trotz des Vorbildes von Drossbach gerade nicht entschließt, in seinem veröffentlichten Werk eine spekulative Naturphilosophie dynamischer Wille-zur-Macht-Quanten zu entwickeln. Die Position von Leibniz mag Drossbach zwar als ‚unwiderlegbar‘ gelten, aber Nietzsche qualifiziert sie zugleich auch als ‚unbeweisbar‘ (BN/Drossbach-1884,38). Zudem ist die Differenz zwischen aneignender Randnotiz, thetischer Nachlass-Formulierung und publiziertem Text vor allem bei Nietzsche nicht aus dem Auge zu verlieren.

47. Das betrifft auch die naturphilosophischen Spekulationen Drossbachs, soweit sie sich für eine Deutung von Nietzsches Thesen zur Zeit-Unendlichkeit und zur ewigen Wiederkunft fruchtbar machen lassen[42]. Einerseits konzipiert Drossbach eine sich in der Zeit ewig wiederholende Konstellation der Ur-Sachen, um so die bewusste Wiedereinkörperung der Seele (quasi-)wissenschaftlich zu begründen. Andererseits weist er gleich zu Beginn seines Textes die Idee einer unendlichen Folge von Erscheinungen als inkonsistent zurück. Nietzsches Randbemerkung, Drossbachs Einwand gegen eine mutmaßlich vollendete Unendlichkeit sei „falsch“ (BN/Drossbach-1884,6), markiert einerseits die Signifikanz Drossbachs für diese Thematik und greift andererseits zugleich auf frühere Überlegungen zurück. In dem gängigen Widerstand und Widerwillen „gegen eine ‚Unendlichkeit nach hinten‘“ (NF-1884,26[383]) sieht Nietzsche schon vor der Lektüre Drossbachs ein Indiz für die verborgenen Nachwirkungen und Schatten Gottes, die sich etwa bei Mainländer, Hartmann und Dühring fänden. Bereits 1873 wirft er David Strauss vor, dieser habe die Antinomie der Unendlichkeit nicht begriffen (NF-1873,27[41]) und gestalte so eine „Kosmodicee“ (NF-1873,27[34]). Den Versuch, die Möglichkeit des ewigen Werdens und der anfangslosen Dynamik als vollendete Unendlichkeit ad absurdum zu führen, kennt Nietzsche bereits aus den Paradoxien, mit denen Zenon den Begriff des Seins von Parmenides verteidigt (PHG-12). Aus dieser Zeit stammen auch Nietzsches Vorbehalte dagegen, die sich hier insbesondere auf ein langes Zitat aus Spirs Denken und Wirklichkeit stützen und den unweigerlich sukzessiven Charakter unserer Zeiterfahrung betonen (PHG-15[43]).

48. Im Kontext von Entwürfen zu Zarathustra III notiert Nietzsche, dem Einwand des vollendeten Unendlichen liege ein unsauberer Sprachgebrauch zugrunde, nämlich eine Verwechslung von Anfang und Ende (NF-1883,16[63]). Während diese Stelle aufgrund ihrer kontextlosen Kürze schwer zu deuten ist, findet sich eine ausführlichere Widerlegung des dabei zugrundeliegenden Denkfehlers in einer späten Notiz unter dem Titel „Die ewige Wiederkunft.“ Demnach beruhe diese Kritik der Zeit-Unendlichkeit darauf, den „correcten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines unendlichen progressus bis jetzt“ (NF-1888,14[188][44]). Dabei werde die Gegenwart fälschlich als Ende eines Anfangs genommen. Namentlich „Herr Dühring“ haben diesen Fehler begangen, aber auch bei anderen „früheren Denkern“ sei Nietzsche auf diesen Gedanken gestoßen. Zu diesen Früheren wäre dann wohl auch Drossbach zu zählen, trotz der philosophischen Verwandtschaft in verschiedenen anderen Bereichen. Die Auseinandersetzung mit Drossbach kann dazu beitragen, Nietzsches Konzeptionen von Unendlichkeit und ewiger Wiederkunft auch im Kontext kosmologischer Theorien und einer Philosophie der Zeit weiter zu analysieren.

49. Nikolaos Loukidelis stellt Drossbach in einen systematischen und genetischen Zusammenhang mit Nietzsches kritischer Erörterung des Ich-Denke. Einerseits belegt Loukidelis ausführlich, dass Nietzsches Kritik am Aberglauben der Logiker in JGB-17 unter anderem auch auf Drossbach gemünzt sein dürfte[45]. Auch Paolo D’Iorio zieht bei seinem Versuch, die „Logiker“ (NF-1885,40[25]) in einem Notat von 1885 zu identifizieren, neben Teichmüller und Spir auch Drossbach in Erwägung. Da sich der Bezug auf Drossbach in diesem Notat allerdings weniger klar ausmachen lässt, hält D’Iorio die Verbindung allenfalls für wahrscheinlich[46]. Andererseits, so Loukidelis, habe die Beschäftigung mit Drossbach auch positive Spuren im Subjektivitätskonzept Nietzsches hinterlassen. So habe Nietzsche die Kritik an der Idee kausal wirksamer Subjektivität und des Ichs als Ursache aus dem Schaarschmidt-Zitat bei Drossbach entnehmen können (BN/Drossbach-1884,15[47]).

1. Anthony Jensen bringt die Drossbach-Lektüre mit einem grundsätzlichen Wechsel in der Geschichtsphilosophie Nietzsches in Verbindung. Im Anschluss an die Lektüre Drossbachs habe Nietzsche eine „anti-realist etiology“ entwickelt, die sich in seinen früheren Schriften so nicht fände und der er erstmals bei Drossbach begegnet sei[48]. Allerdings gibt Jensen irrtümlich an, dass Nietzsche Drossbach „shortly before the composition of Genealogy“ gelesen habe[49], obwohl der zum Beleg zitierte Brobjer korrekt betont: „He read it in 1885“, also während der Arbeit an Jenseits von Gut und Böse[50]. In der richtigen Konzentration auf Drossbachs Kritik der Erscheinungskausalität übersieht Jensen zudem erstens, dass Nietzsche hier kritisch mit dem Text umgeht und Drossbach keineswegs einfach folgt. Vielmehr teilt er zwar die aus Hume und Kant abgeleitete und radikalisierte Kritik der Erscheinungskausalität, wie er überhaupt die Distinktion von Wesen und Erscheinung problematisiert, aber zugleich beweisen schon die Lektürespuren, dass er gegenüber der für Drossbach entscheidenden Alternative, nämlich der ‚Wesen‘ und ‚Ur-Sachen‘, deutliche Vorbehalte hat. Zweitens enthält NF-1885,34[131] auch nicht einfach eine „summary of an argument by Drossbach“ wie Jensen fälschlich Brobjer zuschreibt[51], sondern Nietzsche verbindet in diesem Notat seine Kritik der Erscheinungsrealität mit zeichentheoretischen Überlegungen, die bei Drossbach keine Rolle spielen. Drittens unterschlägt Jensens Deutung von Drossbach als „anti-realist“ und „representationalist“ zudem, dass Drossbach die unbedingte und unvermittelte Erfahrung der wirklichen Wechselwirkung durch empfindende Kraftwesen postuliert und insofern gerade Realist ist[52]. Nietzsche hingegen quittiert die These, die wahren Ursachen seien „das sinnlich wahrgenommene Wirken der Wesen“ mit „Unsinn“ (BN/Drossbach-1884,10) und fragt erkenntniskritisch nach den Quellen dieser speziellen Kenntnis Drossbachs.

2. Große Bedeutung hat Nietzsches Beschäftigung mit Drossbach meines Erachtens im Feld der kritischen Erkenntnistheorie. Schon die Lesespuren deuten klar darauf, dass Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie Drossbachs an grundsätzlichen Forderungen einer Erkenntniskritik im Anschluss an Hume und Kant festhält. Immer wieder stellt Nietzsche die Quellen von Drossbachs Gewissheiten in Frage: „Woher weiss er das nun alles?“ (BN/Drossbach-1884,10). Zugleich dürfte er sich durch die Lektüre Drossbachs in seinen anti-dogmatischen Vorbehalten wenn nicht neu informiert, so doch bestärkt gesehen haben. Insbesondere erhellt die Lektüre Drossbachs Nietzsches Einwände gegen das Kausalitätsprinzip. Für Drossbach steht außer Frage, dass Hume die Unmöglichkeit einer empirischen Begründung der Kausalität gezeigt habe, und dass auch Kants Versuch einer transzendentalphilosophischen Begründung durch ein Vermögen der Vernunft scheitert. Die Lesespuren, das Zitat in NF-1885,34[120], sowie die Parallelen zu Motiven Drossbachs in Nietzsches Texten deuten insgesamt darauf, dass Nietzsche ihm darin folgt, auch wenn seine Kritik der Vorstellung von Kausalität schon früher präsent ist (NF-1881,16[16]; FW-127; NF-1884,25[185]). Drossbachs Radikalisierung der Position Humes ist in ihrer Bedeutung für Nietzsche gerade vor dem Hintergrund einer vermehrt an Hume orientierten Deutung relevant. Auch die Kritik an der Idee, die Notwendigkeit und Einheitlichkeit in der Abfolge des Geschehens sei (nur) durch Naturgesetze zu erklären, wie sie von in JGB-22 vorgebracht wird, findet sich bei Drossbach.

3. Auch Nietzsches Stellung zur epistemischen Funktion der Sinne lässt sich womöglich mit Hilfe der Drossbach-Lektüre besser verstehen. So deutet Mattia Riccardi den Auftakt von JGB-15 mit Hilfe von Drossbachs Kritik der Kausalität der Erscheinungen im Kontext der neo-kantianischen Physiologie des 19. Jahrhunderts[53]. Während weder Maudemarie Clark noch Nadeem Hussain zu einer befriedigenden Interpretation von JGB-15 kommen, lasse sich diese Passage mit Hilfe von Drossbach im Sinne eines nicht nur funktionalen, sondern auch qualitativen Sensualismus aufklären[54]. Fasst man hingegen nicht nur die sensualistische Seite von Nietzsches Erkenntniskritik ins Auge, sondern die dialektische Bewegung zwischen den verschiedenen Positionen im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, so zeigt sich, dass Nietzsche (wie Drossbach) versucht, die falsche Alternative von Empirismus und Idealismus zu vermeiden[55]. In der Komposition von wechselseitigen Würdigungen und Zurückweisungen benutzt Nietzsche zum Teil ähnliche Argumente wie Drossbach sowohl gegen den „Positivismus“ und die „Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklichkeits-Philosophaster“ (JGB-10) wie auch gegen „Kant“ und die „deutsche Philosophie“ (JGB-11) und gegen die „materialistische Atomistik“ (JGB-12). Hier zeigt sich wie bei Drossbach das Bemühen, jenseits der traditionell exklusiven philosophischen Positionen zu denken. Beide teilen auch die kulturphilosophische Ambition, mit der Disjunktion von Empirismus vs. Idealismus auch die falsche Alternative von seliger Unvernunft oder wissender Verzweiflung zu überwinden. Aber auf Drossbachs Lösung mit Hilfe unvermittelter und unfehlbarer Erkenntnis in den Wechselwirkungen empfindender und unsterblicher Kraftsubstanzen verlässt sich Nietzsche nicht.

4. Schließlich ist die Drossbach-Lektüre auch in methodischer Hinsicht für die Beschäftigung mit Nietzsches Kontexten aufschlussreich. Gerade an den Lektürespuren in Nietzsches Drossbach-Exemplar lässt sich bei genauerer Betrachtung seine selektive, kritische und abwägende Rezeption gut nachvollziehen. Erstaunlich ist dabei auch, dass Nietzsche den Text trotz der mitunter erheblichen Redundanzen fast durchgehend mit Lesespuren versieht. Daher markiert längst nicht jede Anstreichung Nietzsches einen neuen interessanten Gedanken Drossbachs. Zugleich spricht der Umstand, dass besonders thetische oder zusammenfassende Passagen Drossbachs von Nietzsche nicht annotiert werden, dafür, dass es Nietzsche nicht um einen hermeneutischen Nachvollzug zu tun ist, sondern um eine interessengeleitete Aneignung. Drossbachs eigenes Projekt spielt letztlich für Nietzsche kaum eine Rolle. Die überschwängliche Einschätzung Schmidts, „Nietzsches Texte sind als Palimpseste zu lesen“, ist daher mit Vorsicht zu genießen[56]. Sicher gehört Drossbachs Text zu den vielen Schichten, die sich in Nietzsches Philosophie übereinander lagern und miteinander vermengen, aber der Gedanke an einen zugrundeliegenden Urtext führt in die Irre. Vielmehr erweist sich die Berücksichtigung der Lektüre Drossbachs in mancherlei Hinsicht als hilfreich, gerade weil Nietzsches Texte nicht einfach auf etwaige Quellen zurückgeführt werden können. Die Vorstellung eines Positivismus der Lesespuren ist hier so fehl am Platz wie der Gedanke an eine mono-direktionale Kausalität zwischen Quelle und Einfluss. Eine Interpretation der Schriften Nietzsches lässt sich nicht durch die Kenntnis seiner Lektüren ersetzen, sehr wohl aber bereichern. So zeigt die Beschäftigung mit Drossbach exemplarisch, wie Nietzsches Philosophie in Bezug auf ihre nachweisbaren Kontexte an Kontur, aber auch an Komplexität und Originalität gewinnt.

4. Forschungsliteratur

5. D’Iorio, Paolo: „La superstition des philosophes critiques. Nietzsche et Afrikan Spir“ in: Nietzsche-Studien 22, 1993, 257-294.

6. Loukidelis, Nikolaos: „Nachweis aus Drossbach, Maximilian: Über die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt“ in: Nietzsche-Studien 34, 2005, 342.

7. Loukidelis, Nikolaos: „Nietzsche und die ‚Logiker‘“ in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Kontexte, hg. v. Helmut Heit & Lisa Heller, Berlin / Boston: de Gruyter 2014, 222-241.

8. Loukidelis, Nikolaos und Brinkmann, Christopher: „Leibnizian Ideas in Nietzsche’s Philosophy: On Force, Monads, Perspectivism, and the Subject“ in: Nietzsche and the Problem of Subjectivity, hg. v. João Constâncio, Maria João Mayer Branco & Bartholomew Ryan, Berlin / Boston: de Gruyter 2015, 95-109.

9. Rahden, Wolfert von: „Nachweise aus Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Maximilian Drossbach und Cicero“ in: Nietzsche-Studien 28, 1999, 370-371.

10. Riccardi, Mattia: „Nietzsche’s Sensualism“ in: European Journal of Philosophy 21/2, 2011, 219-257.

11. Riccardi, Mattia: „Nietzsche und die Erkenntnistheorie und Metaphysik. Indizien für die konservative Lesart“ in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Kontexte, hg. v. Helmut Heit & Lisa Heller, Berlin / Boston: de Gruyter, 2014, 242-264.

12. Schmidt, Rüdiger W.: „Nietzsches Drossbach-Lektüre. Bemerkungen zum Ursprung des literarischen Projekts ‚der Wille zur Macht‘“ in: Nietzsche-Studien 17, 1988, 465-477.

[1]Die hier angeführten biographischen Angaben stützen sich auf die Darstellung von Franz Krause, Maximilian Droßbach. Ein Lehrer der Wiederverkörperung und der Wesenserkenntnis. Mit 2 Bildnissen von Maximilian Droßbach, dem Verzeichnis seiner Schriften und dem Faksimile einer Anzeige, Stuttgart: Selbstverlag, 1933, 6-8. Diese Schrift erschien zuerst 1933 in zwei Teilen im Jahrgang XV von Anthroposophie. Zeitschrift für freies Geistesleben.
[2]Drossbach hat noch im selben Jahr ein Preisgeld von 40 Golddukaten für die Erörterung und Weiterentwicklung dieser Arbeit ausgeschrieben. Den Preis errang Gustav Widenmann, der anders als Drossbach nicht von einer bewussten und erinnerungsfähigen Wiedergeburt ausgeht.
[3]Julius Frauenstädt, „Rezensionen und Berichte: ‚Ueber Erkenntniss.’ Von Maximilian Drossbach, Halle, C. E. M. Pfeffer. 1869“, in: Philosophische Monatshefte, Band 3 (Heft 1), 1869, 40.
[4]Frauenstädt, Rezension Drossbach, 41.
[5]Frauenstädt, Rezension Drossbach, 53.
[6]Frauenstädt, Rezension Drossbach, 55.
[7]Frauenstädt, Rezension Drossbach, 57.
[8]Julius Frauenstädt, Neue Briefe über die Schopenhauer’sche Philosophie, Leipzig: Brockhaus, 1876, 35.
[9]Zitiert nach Maximilian Drossbach, Über die verschiedenen Grade der Intelligenz und der Sittlichkeit, Berlin: Herschel, 1873, 112.
[10]Rudolf Eisler, Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin: Mittler, 1912, 138.
[11]So etwa Benedetta Zavatta, „Nietzsche and Linguistics“ in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften, hg. v. Helmut Heit und Lisa Heller, Berlin / Boston: de Gruyter, 2014, 270. Zavatta verweist dazu auf Andrea Orsucci, La ‚genealogia della morale‘ di Nietzsche, Rom: Carocci, 2001, 221.
[12]Vgl. Rüdiger W. Schmidt, „Nietzsches Drossbach-Lektüre. Bemerkungen zum Ursprung des literarischen Projekts ‚der Wille zur Macht‘“ in: Nietzsche-Studien 17, 1988, 465-477, hier: 467.
[13]Es ist mir nicht bekannt, ob Nietzsche die Studie Die Probleme der Philosophie und ihre Lösungen. Historisch-kritisch dargestellt von O[tto] Flügel aus dem Jahre 1876 (Cöthen: Schulze) zur Kenntnis genommen hat. Die hier von Drossbach paraphrasierte Passage findet sich bei Flügel auf S. 114. Da das Buch Flügels seinerseits recht bekannt war, könnte Nietzsche die Kritik an der Kantischen Annahme eines Vernunft-Vermögens auch andernorts begegnet sein.
[14]Vgl. Schmidt, Drossbach-Lektüre, 467f.
[15]Nikolaos Loukidelis, „Nachweis aus Drossbach, Maximilian: Über die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt“ in: Nietzsche-Studien 34, 2005, 342.
[16]Vgl. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York: de Gruyter, 1998,
[17]Wolfert von Rahden, „Nachweise aus Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Maximilian Drossbach und Cicero“ in: Nietzsche-Studien, 28, 1999, 370-371.
[18]Es ist gut denkbar, aber nicht gesichert, dass Nietzsche das gemeinte Kapitel 4.3 aus Mills System der deduktiven und induktiven Logik kannte. Bei seinem gründlichen Studium anderer Schriften Mills im Sommer 1880 dürfte er dieser Konzeption der Naturgesetze jedenfalls begegnet sein. Besonders die von Mill (im Anschluss an Comte) betonte Verbindung zwischen der Naturgesetz-Idee und der christlichen Religion wird Nietzsche in seinen Vorbehalten bestärkt haben: „Wodurch also waren die Gebildeten im Römerreich für den Monotheismus vorbereitet worden? Dadurch, daß die Lehre von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze thatsächliche Geltung errungen hatte. Diesem Glauben war der Monotheismus wahlverwandt, während der Polytheismus ihm naturgemäß und unausweichlich widersprach.“ Nietzsche notiert am Rand: „alle nein“ (BN/Mill-1874b,17).
[19]Vgl. dazu auch Marco Brusotti, „Reagieren, schwer reagieren, nicht reagieren. Zu Philosophie und Physiologie beim letzten Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien, 41, 2012, 104-126.
[20]Siehe etwa Helmut Heit, „‚... was man ist‘ Zur Wirklichkeit des Subjekts bei Nietzsche“, in: Nietzscheforschung20, 2013, 173-192.
[21]Diese Bemerkungen lassen an Nietzsches Kritik des populären Darwinismus denken (vgl. GD-Streifzuege-14), den er zumindest seit der Lektüre von David Strauss kennt (vgl. DS-12).
[22]Der Sache nach verweist diese Bemerkung zutreffend auf die Nietzsche gut bekannte Diskussion der Teleologie in der Kritik der Urteilskraft.
[23]Vgl. Nikolaos Loukidelis, Es denkt. Ein Kommentar zu Aphorismus 17 aus Jenseits von Gut und Böse, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013.
[24]Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn: J. Baedeker, 1866, 216f., 359f. Siehe auch (BN/Lange-1887,193, 479<BN/Lange-1887,479>). Diskutiert wurde das Problem der Fernwirkung auch bei diversen anderen Autoren in Nietzsches Bibliothek wie etwa Arthur Schopenhauer, Afrikan Spir, Otto Liebmann, Johann G. Vogt und anderen. Nietzsche beschäftigt sich früh damit (NF-1873,26[12]).
[25]Mattia Riccardi, „Nietzsche und die Erkenntnistheorie und Metaphysik. Indizien für die konservative Lesart“ in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Kontexte, hg. v. Helmut Heit & Lisa Heller, Berlin / Boston: de Gruyter, 2014, 242-264.
[26]Auf die ontologische Ähnlichkeit zwischen Drossbach und Boscovich in ihrer gemeinsamen Bedeutung zum Verständnis von JGB-12 verweist auch Mattia Riccardi, „Nietzsche’s Sensualism“ in: European Journal of Philosophy 21/2, 2011, 233.
[27]Vgl. dazu – mit Blick auf Friedrich A. Lange – etwa Reinhard Löw, „Die Aktualität von Nietzsches Wissenschaftskritik“ in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 38, 1984, 399-409.
[28]Schmidt, Drossbach-Lektüre, 470f.
[29]Siehe etwa Rudolf Steiner, „Von Jesus zu Christus (1911)“ in: Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Vorträge, Dornach: Rudolf-Steiner-Verlag, 1974, 61, 64, 218.
[30]Vgl. Krause, Droßbach.
[31]Siehe Schmidt, Drossbach-Lektüre.
[32]Siehe Loukidelis, Nachweis und Rahden, Nachweise.
[33]Thomas H. Brobjer, „Nietzsches Reading and Knowledge of Natural Science – An Overview“ in: Nietzsche and Science, hg. v. Thomas H. Brobjer & Gregory Morre, Aldershot: Asgate, 2004, 40.
[34]Thomas H. Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context. An Intellectual Biography, Urbana: University of Illinois Press, 2008, 96.
[35]Vgl. Brobjer, Philosophical Context, 177, 227.
[36]Siehe beispielsweise R. Kevin Hill, Nietzsche’s Critiques. The Kantian Foundations of his Thought, Oxford: Clarendon, 2003, 15.
[37]Vgl. Guiliano Campioni, Paolo D’Iorio et al. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin / New York: de Gruyter, 2003, 200.
[38]Schmidt, Drossbach-Lektüre, 471.
[39]Jochen Schmidt, Der Mythos ‚Wille zur Macht‘. Nietzsches Gesamtwerk und der Nietzsche-Kult. Eine historische Kritik, Berlin / Boston: de Gruyter, 2016, 19.
[40]In diesem Zusammenhang sei an die asymmetrische Differenz zwischen einer wissenschaftlich-empirischen Theorie und einem philosophisch-logischen Gedanken erinnert, die Günter Abel für Nietzsches Äußerungen zum Willen zur Macht (und zur ewigen Wiederkunft) geltend macht (vgl. Abel, Nietzsche, 378).
[41]Siehe Riccardi, Nietzsche Erkenntnistheorie und Metaphysik. So auch schon, ebenfalls mit Bezug auf Drossbach, in Riccardi, Nietzsche’s Sensualism.
[42]Unter den zahlreichen Texten aus Nietzsches ‚idealer Bibliothek‘, die bisher zur Behandlung der ewigen Wiederkunft als kosmologisches Problem herangezogen wurden, taucht der Name ‚Drossbach‘ nicht auf. Siehe etwa Paolo D’Iorio, „Cosmologie de l’éternel retour“ in: Nietzsche-Studien 24, 1995, 62-123; und Hubert Treiber, „‚Das Ausland‘ – Die ‚reichste und gediegenste Registratur‘ naturwissenschaftlich-philosophischer Titel in Nietzsches ‚idealer Bibliothek‘“ in: Nietzsche-Studien 25, 1996, 394-412.
[43]Nietzsche zitiert Seite 264f. der Erstausgabe aus dem Jahre 1873. In seiner Bibliothek findet sich heute nur noch die reich annotierte zweite Auflage von 1877. Den von Nietzsche zitierten Abschnitt „Ueber das Wesen der Veränderung“ hat Spir für die zweite Auflage überarbeitet und von Kapitel III/1-2 nach Kapitel II/4-1 verschoben. Vgl. BN/Spir-1877,209f.
[44]Vgl. Abel, Nietzsche, 389.
[45]Siehe dazu Nikolaos Loukidelis, „Nietzsche und die ‚Logiker‘“ in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Kontexte, hg. v. Helmut Heit & Lisa Heller, Berlin / Boston: de Gruyter, 2014, 222-241; sowie
[46]Vgl. Paolo D’Iorio, „La superstition des philosophes critiques. Nietzsche et Afrikan Spir“ in: Nietzsche-Studien 22 1993, 257-294, bes. 292f.
[47]Loukidelis, Nachweis, 342. Loukidelis verweist zudem auf Andrea Orsucci, La ‚Genealogia della morale‘ di Nietzsche. Introduzione alla lettura. Rom, 2001, 219ff; auf Mattia Riccardi, ‚Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus‘ – Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche, Basel, 2009, 128ff, 211ff; und auf Andrea Spreafico, L’ onestà dei forti. La potenza della filosofia di Nietzsche, Genua, 2008, 140ff.
[48]Jensen, Philosophy of History, 162.
[49]Jensen, Philosophy of History, 162.
[50]Brobjer, Philosophical Context, 177.
[51]Jensen, Philosophy of History, 132.
[52]Jensen, Philosophy of History, 162.
[53]Riccardi, Nietzsche’s Sensualism, 227-229.
[54]Riccardi, Nietzsche’s Sensualism, 248. Allerdings kommt Riccardi dabei nicht umhin, Nietzsche eine Ontologie der Machtquanta zu unterstellen, die derjenigen Drossbachs ähnlich ist. Dabei übersieht er in seinem Bemühen, einen qualitativen Sensualismus Nietzsches zu rekonstruieren, ebenso wie Clark und Hussain, dass JGB-15 im Konditional formuliert ist und mit einem Fragezeichen endet.
[55]Vgl. Helmut Heit, „Erkenntniskritik und experimentelle Anthropologie – Das erste Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen“ in: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, hg. v. Marcus Andreas Born, Berlin / Boston: de Gruyter, 2014, 27-45.
[56]Schmidt, Drossbach-Lektüre, 466.