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Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist: wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriffs „Historie“. Von der Etymologie und der Geschichte der Sprache her nehmen wir alle Begriffe als geworden, viele als noch werdend; und zwar so, daß die allgemeinsten Begriffe, als die falschesten, auch die ältesten sein müssen. „Sein“, „Substanz“ und „Unbedingtes“, „Gleichheit“, „Ding“ —: das Denken erfand sich zuerst und zu ältest diese Schemata, welche thatsächlich der Welt des Werdens am gründlichsten widersprachen, aber ihr von vornherein, bei der Stumpfheit und Einerleiheit des anfänglichen, noch unterthierischen Bewußtseins, zu entsprechen schienen: jede „Erfahrung“ schien sie immer von Neuem und sie ganz allein zu unterstreichen. Die Gleichheit und Ähnlichkeit wurde allmälig, mit der Verschärfung der Sinne und der Aufmerksamkeit, mit der Entwickelung und dem Kampfe des vielfältigsten Lebens, immer seltener zugestanden: während für die niedersten Wesen Alles „ewig sich gleich“, „Eins“, „beharrlich“, „unbedingt“, „eigenschaftslos“ erschien. Allmälig vervielfältigte sich dergestalt die „Außenwelt“; aber ungeheure Zeiträume hindurch galt auf Erden ein Ding als gleich und zusammenfallend mit einem einzigen Merkmale, zum Beispiel mit einer bestimmten Farbe. Die Vielheit der Merkmale an einem einzelnen Ding wurde mit der größten Langsamkeit zugestanden: noch aus der Geschichte der menschlichen Sprache sehen wir ein Widerstreben gegen die Vielheit der Prädikate. Die längste Verwechselung aber ist die daß das Prädikat-Zeichen mit dem Ding selber als gleich gesetzt wird; und die Philosophen, welche gerade die ältesten Instinkte der Menschheit auch die ältesten Ängste und Aberglauben (wie den Seelen-Aberglauben) am besten in sich nachgebildet haben — man kann bei ihnen von einem Atavismus par excellence reden — drückten ihr Siegel auf diese Verwechselung, als sie lehrten, gerade die Zeichen, nämlich die „Ideen“ seien das wahrhaft Vorhandene, Unveränderliche und Allgültige. Während thatsächlich das Denken, bei der Wahrnehmung eines Dings, eine Reihe von Zeichen umläuft, welche das Gedächtniß ihm darbietet, und nach Ähnlichkeiten sucht; während der Mensch mit einem ähnlichen Zeichen das Ding als „bekannt“ ansetzt, faßt, ergreift: meinte er lange es eben damit zu begreifen. Das Greifen und Fassen, das Aneignen bedeutete ihm bereits ein Erkennen, ein Zu-Ende-kennen; die Worte sogar in der menschlichen Sprache schienen lange — und scheinen dem Volke heute noch — nicht Zeichen sondern Wahrheiten in Betreff der damit bezeichneten Dinge zu sein. Je feiner die Sinne, je strenger die Aufmerksamkeit, je vielfältiger die Aufgaben des Lebens wurden, um so schwerer wurde auch die Erkenntniß eines Dings, einer Thatsache als endgültige Erkenntniß, als „Wahrheit“ zugestanden; und zuguterletzt, auf dem Punkte zu welchem uns heute das methodische Mißtrauen gedrängt hat geben wir uns gar nicht mehr das Recht, von Wahrheiten im unbedingten Sinne zu reden, — wir haben dem Glauben an die Erkennbarkeit der Dinge ebensosehr wie dem Glauben an die Erkenntniß abgeschworen. Das „Ding“ ist nur eine Fiktion, das „Ding an sich“ sogar eine widerspruchsvolle unerlaubte Fiktion: aber auch das Erkennen, das absolute und folglich auch das relative, ist ebenfalls nur eine Fiktion! Damit fällt denn auch die Nöthigung weg, ein Etwas das „erkennt“, ein Subjekt für das Erkennen anzusetzen, irgend eine reine „Intelligenz“, einen „absoluten Geist“: — diese noch von Kant nicht gänzlich aufgegebene Mythologie, welche Plato für Europa in verhängnißvoller Weise vorbereitet hat und die mit dem christlichen Grund-Dogma „Gott ist ein Geist“ alle Wissenschaft des Leibes und dadurch auch die Fortentwicklung des Leibes mit dem Tode bedrohte, — diese Mythologie hat nunmehr ihre Zeit gehabt.